GRIP 66
12/20/2022
Ein Kino der Schaulust
Zum Tod von Reinhard Kahn.
Von Winfried Günther
Im April 1980 sah ich im Kommunalen Kino Frankfurt, damals noch im Historischen Museum, in einer internen Vorführung einen neuen Film von zwei angeblich schon seit vielen Jahren tätigen Frankfurter Filmemachern, von denen ich noch nie gehört hatte: Reinhard Kahn und Michel Leiner. Es war ihr erster Film seit zehn Jahren, auf 16 mm und in Farbe gedreht, ein filmischer Essay über den Wald, mit Bildern vor allem aus dem Taunus und mit Texten vor allem von Robert Walser. Hinterher fragte ich den anwesenden Reinhard Kahn, warum sie denn den Film ausgerechnet „Waldi“ genannt hätten. Er sah mich ruhig an und sagte dann mit leiser Stimme: „Na ja, ein Titel ist ja dazu da, eine Barriere zwischen dem Film und dem Zuschauer zu errichten.“ Dieser Satz war typisch für Reinhards introvertierten, etwas schrägen, dabei immer pointierten Humor. Auch seine Filme sind von diesem Humor erfüllt: manchmal urkomisch wie „Klaus“ (1968/80), manchmal verhalten und versponnen wie „Nur Fliegen ist schwerer“(1985), Reinhards erster Film ohne Michel Leiner, aber wiederum nach Robert Walser, diesmal auf Motiven aus dessen Roman „Jakob von Gunten“ basierend, der vielleicht merkwürdigste Tanzfilm der Filmgeschichte. Reinhard hatte sich zur Vorbereitung intensiv mit dem Tanzen beschäftigt. Es ist der unterschwellige Humor oder sagen wir: Unernst, der diesen Filmen in ihren besten Momenten – es gelingt natürlich nicht immer – ihre schwerelose Leichtigkeit verleiht. Am schönsten für mich in „Mit dem Munde gefilmt“, welcher von Sprichwörtern aus aller Welt ausgeht und mit großer visueller Lust ihre Bedeutungen inszeniert.
„Ein Titel ist ja dazu da, eine Barriere zwischen dem Film und dem Zuschauer zu errichten.“ Dieser Satz war aber zugleich vollkommen ernst gemeint. Niemals haben sich die Filme von Kahn/Leiner irgendeinem Zuschauer angebiedert. Sie sind sozusagen unkommerziell bis in die Knochen, rechnen mit der Intelligenz und Sensibilität des Publikums und nicht seiner Dumpfheit. Es drückt sich darin eine bestimmte Haltung der Welt gegenüber aus; man kann sie vielleicht am pointiertesten in „Platzwunder“ (1984) studieren, welcher versucht, Bildern der Dingwelt ein autonomes Eigenleben ohne Handlungs- oder Bedeutungszwänge zukommen zu lassen. Wie bei seinem Mentor Alexander Kluge hat man den Eindruck, dass Reinhards Filme weniger beim Drehen als am Schneidetisch entstanden sind. Reinhard hatte eine Ausbildung in der Filmklasse der Hochschule für Gestaltung in Ulm absolviert, und er hat fast alle seine Filme selbst fotografiert, aber er war mehr als nur ein kompetenter Techniker: Er besaß einen besonderen Blick auf Menschen und Dinge, der vom Alltag ausging, sich aber fast völlig davon zu lösen vermochte. Schon seit Jahren machte er keine Filme mehr, aber man konnte diesen besonderen Blick in den letzten Jahren nochmals in zwei Ausstellungen mit Fotos von ihm in Dreieich und Frankfurt erleben. Reinhard Kahn war auch ein großer Fotokünstler. Alle, die ihn kannten, werden ihn vermissen.
Kategorie: Nachruf
Schlagworte: Filmemacher*in, Experimentalfilm, Dokumentarfilm
