GRIP 66
12/20/2022
Das Kino im Blut
Theaterleiterin Antje Witte hat sich nach 40 Jahren von der aktiven Kinoarbeit verabschiedet. Es muss wohl angeboren sein, wenn man sich so lang mit solch einem Enthusiasmus der Programmkino-Arbeit widmet. Tatsächlich war bereits Antje Wittes Großvater staatlich geprüfter Filmvorführer und besaß vor dem Zweiten Weltkrieg in Gelsenkirchen das Kino Apollo. Mit dieser Leidenschaft fürs Kino profilierte sie sich über viele Jahre vor allem als mutige Programmkuratorin. Unter ihrer Leitung avancierte das Frankfurter Kino Orfeos Erben zu einem angesehenen Filmkunsttheater in Deutschland.
Von Claudia Prinz
„Ich bin schon immer ins Kino gegangen. Mein erster Film war „Das Dschungelbuch“, da war ich keine vier Jahre alt. Wir waren als Kinder und Jugendliche mindestens zweimal die Woche im Kino“, erinnert sie sich. Wittes Vater hatte ein großes Fahrgeschäft, eine Wildwasserbahn, mit der er auf Jahrmärkten gut verdiente. Da lernte die kleine Antje früh Geld zählen und diese Fähigkeit beeindruckte Wolf-Dietrich von Verschuer, der die Harmonie Anfang der 1980er Jahre von der Strandfilm Theaterbetriebs GmbH übernommen hatte, so sehr, dass er ihr einen Job an der Kasse anbot. Es war ihre erste Stelle und ihr Anfang in der Programmkino-Szene.
Ein wechselvoller Anfang
Sie stieg schnell zur Vorführerin auf und wechselte später ins Büro, wo sie außer der Programmauswahl weitere Tätigkeiten übernahm: von der Abrechnung über Bestellungen bis zur Öffentlichkeitsarbeit. Doch ihr selbstbewusstes Auftreten führte bald zu Konflikten mit ihrem Chef, mit dem sie sich irgendwann überwarf und sie der Harmonie den Rücken kehrte. Sie fand eine neue Stelle bei Stumpf Kinotechnik, wo sie den Open Air Kino-Aufbau und andere praktische Tätigkeiten erlernte. Obwohl sie sich mit der Seniorchefin, die ein strenges Regiment über ihre Söhne führte, gut verstand, blieb Witte nur ein halbes Jahr, denn sie erhielt die Chance, als Teil einer GbR mit Hans Bornemann im Mal Seh‘n-Kino einzusteigen. Zusammen mit Eva Heldmann gestaltete sie das Programm sowie zahlreiche Reihen und kleine Festivals, sprang aber auch als Vorführerin ein. In diese Zeit fällt unter anderen ihr Lieblingsfestival, das Lesbisch- Schwule Filmfestival, zu dem sogar Künstler*innen aus den USA eingeladen werden konnten. Café und Kino liefen im Mal Seh‘n getrennt und während der Kasse des Cafés meistens gut gefüllt war, wurde die Kinokasse immer leerer. Witte zog die Reißleine und stieg mit finanziellem Schaden aus.
Im Orfeos Erben angekommen
Danach wandte sie der Kinoszene erst einmal den Rücken zu und fing bei Radio X an, wo die einzige bezahlte Stelle für sie eingerichtet wurde, allerdings nur für ein Jahr. Im Büro in der Schützenstraße beschäftigte sie sich überwiegend mit der Verwaltung, lernte aber auch den Umgang mit Tontechnik.
Es folgten weitere Jahre, in denen sie hauptsächlich in der Gastronomie jobbte, bis eines Tages ein Artikel in der Frankfurter Rundschau darauf hinwies, dass das alte Orfeo Kino als Orfeos Erben in den FunDeMental Studios in der Hamburger Allee wieder eröffnet werden sollte. Offenbar bestand noch Bedarf für Mitwirkung, insbesondere für den Bereich der Programmgestaltung. Witte bewarb sich und bekam die Stelle. So wurde sie dort Kinoleiterin, Programmgestalterin, Pressesprecherin, Vorführerin und Mädchen für alles.
Das Orfeos Erben wurde unter Antje Wittes Leitung eines der bekanntesten Programmkinos in Deutschland und sammelte zahlreiche Preise ein. Ein Höhepunkt ist sicher die Auszeichnung ihrer persönlichen Leistung durch das Bundeskulturministerium (BKM). Außer den Preisen für Kinos und Programme wurde zeitweilig auch ein Preis für die Programmgestaltung ausgelobt, der gezielt die Mitarbeiter*innen ehrte, die dafür zuständig waren. Gemeinsam mit dem leider verstorbenen Franz Stadler (Filmkunst 66 in Berlin) und Sabine Matthiesen, damals für das Programm des Zeise Kinos in Hamburg verantwortlich, durfte Witte für ihr Programm im Orfeos Erben diesen Hauptpreis entgegennehmen.

Starke Premierenabende mit Gästen
Das Orfeos Erben war Heimat vieler Filmreihen und Festivals und weil das Kino, wie schon im alten Orfeo, eine Einheit mit dem angeschlossenen Restaurant bildete, konnte eine ganz besondere Idee von Film und Gastronomie in Form des „kulinarischen Kinos“ umgesetzt werden. Sie verband Filmvorführungen mit speziellen Menüs und fand großen Anklang. Besonders schätzt Witte Premieren, die mit der Präsenz von Regisseur*innen begleitet werden. Sie erinnert sich gerne an die lokale Premiere des Goldenen Bären-Gewinners „Gegen die Wand“ zurück. Fatih Akin entpuppte sich als äußerst sympathischer Gast, vor dem sich leicht jegliche Scheu ablegen ließ: „Alle dachten, jemand, der solch einen Film macht, ist ein bisschen abgehoben. Aber er war völlig normal, sehr offen und zugänglich. Es war eine Freude, mit ihm zu diskutieren und das Publikumsgespräch nach der Vorführung dauerte fast bis Mitternacht. „Eine andere Vorführung, die ihr im Gedächtnis geblieben ist, war „Schwarze Katze, weißer Kater“ von Emir Kusturica. Der Film wurde in der Originalfassung gezeigt, und die jugoslawische Community aus Frankfurt und Umgebung kam ins Kino. Nach der Vorstellung standen alle auf und klatschten. Das Kino war wochenlang ausverkauft, weil nur dort die Originalfassung zu sehen war.
Kinopolitisches Engagement
Neben der aufreibenden Arbeit im Kino, bei der sie in manchen Wochen auf sechzig Stunden kam, engagierte sich Witte zusätzlich noch in kinopolitischen Fragen. Sie war mehrere Jahre Mitglied in der BKM-Kinoprogrammpreis-Jury und zuletzt auch in der Jury für den Verleiherpreis. Seit Anfang der 2000er-Jahre setzte sie sich zudem als Vorstand des Film- und Kinobüros Hessen für die Stärkung des hiesigen Filmstandorts ein. Als die Filmförderung umstrukturiert werden sollte, rief sie die Verantwortlichen der verschiedenen Institutionen in einer Runde zusammen, die 2008 in die Gründung der Initiative HessenFilm mündete.
Lieblingsfilme und die Zukunft des Programmkinos
Nach ihren Lieblingsfilmen gefragt, zögert Antje Witte nicht lange und zählt auf: Da wären zum Beispiel „Die Siebtelbauern“ des österreichischen Drehbuchautors und Regisseurs Stefan Ruzowitzky wie auch der bereits erwähnte Film „Schwarze Katze, weißer Kater“, oder das legendäre Opus „1900“ von Bernardo Bertolucci und „Vicky Christina Barcelona“ von Woody Allen. „Und selbstverständlich die filmischen Werke von Pier Paolo Pasolini und Federico Fellini, ein Werk von sicher fünfzig Filmen, die diese beiden Meister hinterlassen haben.“
Die Zukunft des Programmkinos sieht sie eher pessimistisch. Zum einen habe das Angebot gelitten. Bereits vor Corona sei es schwierig geworden, eine qualitative Filmauswahl zu treffen, aber immerhin kam eine große Anzahl von Filmen auf den Markt und so fand sich immer etwas Spielbares. Leider sei das Angebot inzwischen noch weniger attraktiv, was eine interessante Programmgestaltung weiter erschwere. Es wirke sich hier aus, dass in den beiden vergangenen Jahren weniger Filme gedreht worden seien. Und Witte weiß, dass vor allem die Programmkinos im ländlichen Raum stark zu kämpfen haben. „Als ich Ende Mai in einem Rundbrief an meine Kinokollegen ankündigte, dass ich aufhören werde, erhielt ich viele Kommentare in der Art. ‘Du machst es richtig, wir schaffen das kaum noch‘. Der Kartenverkauf verzeichnet in allen Kultureinrichtungen starke Rückgänge“, beklagt sie: „Die Menschen gewöhnen sich daran, zu Hause zu bleiben. Ich bezweifle, dass sich das wieder ändert.“
2022 war Antje Witte erkrankt, was einen wochenlangen Krankenhausaufenthalt nach sich zog. Und die Besitzer von Orfeos Erben erdachten sich ein neues Konzept ohne ein durchgängiges Kinoprogramm, für das sie sich nicht hat erwärmen können. Time to say goodbye. Nach fast 25 Jahren kündigte sie. Antje Witte hat die Frankfurter Programmkinowelt nachhaltig geprägt. Sie fehlt schon jetzt.
Kategorie: Personenportrait (GRIP FACE)
Schlagworte: Kino, Filmkultur, Institution, Auszeichnung
