GRIP 50

5/1/2014

Die Poesie des Moments

Ein Porträt der Filmemacherin Helga Fanderl

Von Karola Gramann und Heide Schlüpmann

Wir sind mit Helga Fanderls Filmarbeit seit langem vertraut. Die ersten Filme sahen wir bereits Ende der 1980er Jahre - vielleicht war es im Kontext der sehr schönen Super 8-Filmabende, die damals die Studierenden der Kubelka-Filmklasse der Städelschule veranstalteten. Seither haben wir Helgas Arbeiten kontinuierliche wahrgenommen und auch immer wieder - in Zusammenarbeit mit ihr - präsentiert.

Die poetische Dichte dieser "Miniaturen" hat anfangs dazu verleitet, Vergleiche mit der Lyrik zu suchen, etwa mit dem Haiku. Doch geht dieses Verständnis am Kern der Arbeit von Helga Fanderl vorbei, an dem Verhältnis von Körper und Apparat, in dem sich ein ganz anderer Prozess entfaltet als das Schreiben. Körperliche Aktionen und Reaktionen, Gesten des Blicks, der Empfindung, des Verlangens, gehen ungefiltert durch eine bewusste Reflexion in die Filme ein - die im Übrigen reine Aufnahme vorgefundener Wirklichkeiten sind. Das Leben hinter der Kamera mischt sich mit dem Leben vor ihrem Auge.

Von den frühen Filmen, „Kirchplatz“ oder „Osterglocken“ etwa, bis hin zu so virtuosen Momentaufnahmen wie „Feuerwerk“, „Gläser“, „Khakibaum mit Vögeln“ - hat sich diese Arbeitsweise erhalten. Unbeirrt und im Widerstand gegen die technologisch-ökonomische Entwicklung, die Helga Fanderls Arbeit zunehmend erschwert und zu verunmöglichen droht.

Ab einem gewissen Zeitpunkt kam mehr und mehr die andere Seite ihres Filmmachens, die Filmprojektion, als eine zweite Kunstform zur Geltung - für sie und für uns, das Publikum. Helga Fanderl projiziert das sensible Super 8-Material immer selber, steht hinter dem Projektor, der im Zuschauerraum aufgestellt wird. Das Surren des Vorführapparats ist der Ton in allen ihren Filmen. Die Vorarbeiten zu diesem Ereignis sind so wichtig wie die Filmaufnahme: Die Zusammenstellung der Filme zu einem Programm, die Abstimmung der Auswahl auf einen Ort und ein Publikum; ja die Suche nach Räumen, die eine Herausforderung für die Projektion darstellen könnten, neue Spielräume für die Wirkung der Filme.

Super 8 ist kein Kinoformat. Doch in Zeiten, da das Celluloid aus dem Kino verschwindet, macht Helga Fanderl mit diesem Material noch einmal "Kino".

PS: Wir baten Helga Fanderl um einige Informationen zu ihrer Arbeitsbiografie für diesen Artikel. Sie schickte uns den folgenden Text, den wir hier (gekürzt) abdrucken, weil er nicht nur Informationen über die Filmmacherin gibt, sondern diese in ihrer Eigenheit auch aus ihm spricht.

"Ich wurde 1947 in Ingolstadt geboren.
Eigentlich wollte ich Dichterin werden. Nach meinem Studium der Germanistik und Romanistik (1967-1973) in München, Paris und Frankfurt entschied ich mich jedoch unter dem Einfluss der Ideen der Frankfurter Schule, insbesondere Adornos, Lehrerin zu werden, was mir nicht leicht fiel. Ich unterrichtete zuerst am Abendgymnasium in Frankfurt, ging dann infolge einer Krise 1979-1981 als DAAD-Lektorin für zwei Jahre an die Universität Bologna. Danach unterrichtete ich in Teilzeitarbeit und fand ein paar Jahre später zum Film als dem künstlerischen Ausdrucksmittel, das mir entsprach.

Es war nicht die Sprache, sondern die bildende Kunst, die mir – im Medium des Films – eine ganz eigene und intensive poetische Arbeitsweise eröffnete. Deshalb studierte ich von 1987 – 1992 an der Städelschule in Frankfurt bei Peter Kubelka. 1992 - 1993 verbrachte ich ein Studienjahr in New York mit Robert Breer an der Cooper Union School of Arts. Ebenfalls 1992 wurde ich Meisterschülerin und bekam den Coutts Contemporary Art Award verliehen.

Seit 1986 ist ein umfangreiches Werk von vielen hundert kurzen Filmen gewachsen, das ich für Vorführungen bisher nur zum Teil ausschöpfen konnte. Ich finde meine Gegenstände, wenn ich mit der S 8 Kamera und offenen Sinnen unterwegs bin. Die handliche kleine Super 8-Kamera ist für mich das geeignete Instrument, direkt auf Ereignisse zu reagieren, mein Interesse zu erkunden und zu vertiefen und an Ort und Stelle gleichzeitig in eine filmische Form zu übertragen. Meine Filme entstehen beim Filmen selbst, sozusagen in einem Gestus, und bewahren so die Chronologie der Aufzeichnung und die Intensität ihrer Entstehung. Sie sind in der Kamera geschnitten und nicht nachträglich bearbeitet. Bei der konzentrierten Arbeit mit der Kamera kommt es mir auf die intensive Wechselwirkung mit dem Gegenstand an. Die Kamera ist handgehalten, das Gestische des Aufnehmens im doppelten Sinne ist spürbar, wie in einer gemalten Skizze oder in einer Zeichnung. Der Betrachter spürt meine Präsenz im Hier und Jetzt der gefilmten Situation, kann jede meiner Entscheidungen nachvollziehen.

Bewegungsmuster, Rhythmen, Formen, Texturen und Farben inspirieren mich. Ich verwandle, was ich wahrnehme, empfinde, denke und imaginiere, in Film, das heißt, ich gestalte die entdeckten Bilder in einer zeitlichen Dimension. Die Filme sind ohne Ton, zwischen ca. einer halben Minute und 3 Minuten (maximale Länge einer Super 8 Kassette) lang.

Ich zeige meine Filme in wechselnden Programmen, ‚komponiere’ mit einer wechselnden Auswahl von Arbeiten kleinere und größere Einheiten, die für die Dauer einer Vorführung ein assoziatives Ganzes ergeben. Meine Filme in stets neuen Zusammenstellungen zu programmieren, ist ein wichtiger Teil meiner künstlerischen Praxis. Die ‚Montage’ der ausgewählten Filme ergibt jedes Mal einen neuen, doch ephemeren ‚Film’. Die Bedeutung des einzelnen Films variiert in veränderten Kontexten. Auch die Zeitform wirkt je nach Zusammenhang mit anderen Filmen unterschiedlich. So bleibt mein Werk offen für unterschiedliche Lesarten und Interpretationen.

Jedes meiner Programme führt wesentliche Aspekte meiner Arbeit beispielhaft vor und schafft einen intensiven filmischen Kosmos, in dem der Betrachter leicht die gewohnte Erfahrung von Zeit und Raum verlieren kann.

Die S8 Filme werden aus dem Zuschauerraum projiziert, so dass das rhythmische Geräusch des Projektors zu hören (die Filme sind insofern nicht stumm) und die Apparatur präsent ist. Jede Projektion ist ein einmaliges Ereignis, hat den Charakter einer Performance und betont das Medium selbst.

Seit einigen Jahren zeige ich meine Arbeiten auch als 16mm Blow-ups, da ich keine Super 8-Kopien mehr bekomme. Ich lasse ausgewählte Filme in komponierten Einheiten vergrößern, die ich wie Module für wechselnde Programme kombinieren kann. Das stellt eine Variante meiner Programmarbeit dar.

Für Installationen arbeite ich mit 16mm Endlosschleifen und auch mit der Montage von Ausschnitten von Filmen, die digitalisiert wurden."

Helga Fanderl

ausgewählte Filmographie (1986-2013)

See
Kirchplatz
Blaues Haus
Pferd
Ostpark
Pariser Bilder
Italienische Mauer
Ostermesse
Wespen fressen
Schrebergärten
Blatt-Tanz
Möwen auf Eis
Saatkrähen am Main*
An der Schutter
Blumen orange blau lila gelb
Blätter fallen
Weybridge
Hund im Schnee
Pfau
Frühstück in Delft
Heftige Quellen
Vernazza
Von einem Spaziergang
Diges
Portrait
Méchoui
Eisbär*
Gramercy Park
New Hope (I+II)*
Pfützenspiegel
Selbstbilder in New York
Father Demo Square
Wiese in Pennsylvania
Sultanspalast
Dörfer im Antiatlas
Teetrinken
Rote Mauer
Sitzende
Wolken in Etretat
Selbstbilder im Palais Royal
Künettegraben
Turm Triva*
Gewitterregen
Weiße Taube
Zapping
Sardinenkörbe
Friedhof
Mauer und Möwen
Muschelfänger
La Ménara
Mädchen
Großer Platz und Meer
Weiße Männer*
Opfer
Netzaufziehen
Kindertheater
Netzeinziehen
Stadt von oben
Pelikane
Apfelernte
Münster
Kirche am Kanal
Museumsinsel
Züge im Schnee
Züge (Winter)
Züge (Frühling)
Züge (Herbst)
Vor der Ausfahrt
Gasse
Sommer
Piazza Maggiore
Pistre
Fährboot
Stadt der Toten
Fluß
Roter Vorhang
Medersa
Palmsonntag
Eclipse*
Kleines Feuerwerk*
Riesenrad
Brunnen
Rénovation
Szenen
Luctor*
Luctor
St. Denis
Schleuse*
Kirchenfenster
Sonntag
Voliere*
Voliere
Große Voliere
Mistral
Jakobsturm
Fontaine Médicis*
Kanal
Große Räume (I+II)*
5, Avenue...
Mona Lisa*
Passanten*
Schafgarben*
Füße am Bd. Raspail*
Liegende Blumen
Feuerwerk*
A la terrasse
Wasserfall
Tanz der Vasen
Rex
Nescia und Bruno
Blätter im Fluß
Tunnel*
Osterglocken im Schnee
Seehunde
Place St. Sulpice
Flugzeuge I - IV
Bologna-Skizzen
Am Meer
Herde
Apfelpflücken
Ostberlin*
Vögel am Checkpoint Charlie*
Atomium
Synagoge
Osterglocken im Fluß
Museumsbesucher*
Mona Lisa digital*
Brunnen mit schwarzen Figuren
Abriß
Baustelle
Regenbogen-Brunnen
Kleine Straße
Hochzeit in Erlangen
Hochzeitsblumen
Poetenfest
Intérieur - Extérieur
Nacht*
Blätterkehren*
Verkehr*
Métro aérien
Schiffschaukel
Licht und Schatten
Quai de Jemmapes
Canal St. Martin im Schnee*
Hasenmalen
St. Gervais und die Ulme
Der weiße Tisch
In den Tuilerien
Schaukeln
Wasser
Métro Palais Royal (I+II)
Herbstbilder
Palmenhaus
Voliere von außen
Nachts
Eisbahn
Lichtstreifen
St. Petersinsel
Binsen
Portikus
Schwarze Kirschen
Allee
Tortelloni*
Schaukeln
Auf dem Zürichsee
Alte Macht
Strandverkehr
Schwarze Katze*
Löwenkopfbrunnen*
Grabmäler*
Wilde Wasser*
Fallingwater*
Chelsea Moments
Neujahrsfeuerwerk
Rue Labat en deuil
Unter den Seerosen
Teich im BerryHerbst in St. Piat
Parc de Versailes
Karussel
Spiegelung
Pflastermalen
Innenhof
Kettenkarussell
Gletscher
Netzwerfer
Karpfen in Farbe schwimmend
Hütte
Baumschatten auf roter Wand
Fenster und Schatten
3 Szenen in Midtown
Grauer Reiher I + II
Golfhaus
Bleierne Wellen
Columbus Circle
Broadway*
Jardin tropical im Frühling
Hütte
Haus in der Villa de l’Ermitage
Am Kanal
Grüner Ball
Warriors Mark
Louie
Aus dem Empire State Building*
Elefanten
Hochzeitswalzer
Kirche in Bernui
Zora schaukelt
Pflanzen
Kinderexpreß
Schmetterlinge
Wassertanz
Nach dem Feuer I + II
Fenster und Tulpenstrauß
Für M.
Kakibaum im Winter
Pfosten im Fluß
Große Kaskade
Lichttempel
Wasser und Gitter
Güterzüge I + II
Kreuzung
Dampfwolken
Chatham Street E.
Flugparade
Kakibaum
Schneefall*
Macht des Vulkans
Paynes Prairie
Feuerturm
Auf dem Canal de l’Ourq
Tamboure und Tanzende
Aquarium*
Aufstehversuche
Gasometer I*
Gasometer II*
Gebetsteppiche
Niagarafälle I
Niagarafälle II
Herbst
Sonntagsspaziergänger
Rost
Parc Floral
Kakibaum*
Gläser
Container
Leuchttreppe
Spanische Landschaften
Gespiegelt
Aktion Tabac I + II
Kleiner Zweig im Wasserfall
Tagliatelle
Tortellini Tortelloni
Victoria
Kanalbrücke
Leopard
Hephaistostempel
Abendglitzern
Pension Yali I + II
Niagarafälle III – VII
Schneeleopard
Nebellicht
Ward’s Island
Blätterteppiche
Kakibaum mit Vögeln
Kolonialgarten
Karussell
Super 8 (ohne Ton, Farbe und Schwarzweiß*)

Kategorie: Personenportrait (GRIP FACE)

Schlagworte: Filmemacher*in, Filmtheorie/Filmwissenschaft, Experimentalfilm

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