GRIP 40

5/1/2009

Die Schule des Sehens

Welchen Einfluß hat die Videotechnik auf das Filmemachen? – Ein Jour Fixe im Filmhaus Frankfurt zu Fluch und Segen der digitalen Filmtechnik

Von Hannes Karnick / Daniel Güthert

"Je demokratischer eine Technologie wird, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß aus ihr Kunst entsteht." Schon die erste, zugespitzt provokante Formulierung von Regisseur Wolfgang Richter (Docfilm) versprach einen lebendigen Diskussionsverlauf beim Januar-Jour Fixe des Filmhauses Frankfurt. Eingeladen hatte Filmhausleiter Ralph Förg, um der Frage nachzugehen, inwieweit die Videotechnik das Filmemachen erleichtert. Und tatsächlich verlief der Abend kontrovers. Mit Wolfgang Richter vertrat auch Thomas Carlé, Professor an der Filmhochschule Darmstadt, die Überzeugung, daß die Technik kein Garant für mehr Qualität sei.

Sehr dezidiert legte Carlé aus seiner Erfahrung als Hochschullehrer dar, wie sehr die Videotechnik, die keine Materialkosten verursache, zu Nachlässigkeit des Sehens und des Vorbereitens verführe. Allein der Kostendruck, der beim Drehen mit 16mm oder sogar 35mm verbunden ist, habe eine disziplinierende Wirkung. Man sei gezwungen, die Bilder, die Szenen mit äußerster Akribie vorzubereiten, das heißt die szenische Auflösung, das Licht, die Einstellungen akkurat zu planen, während beim Videodreh häufig ungebändigt drauflosgefilmt werde. Und diese Laxheit sei leider den heutigen Videoarbeiten auch anzusehen.

Doch statt der Spur der kritischen Selbstreflektion zu folgen, kaprizierte sich die Debatte auf den vermeintlichen Gegensatz von moderner und konservativer Grundanschauung. Mehrfach wurden Richter und Carle in die Ecke von Nostalgikern gedrängt, obwohl beide in ihrer Arbeit, wie wiederholt betont wurde, selbst die neuesten Techniksysteme einsetzten.

Schließlich ging Carlé in der aufgeladenen Runde sogar noch einen Schritt weiter. Die schönsten Filme entstünden mitunter sogar aus den Defiziten der Technik, wenn vermittels der Gestaltungskraft und der Phantasie des Filmemachers die Grenzen des Mediums überwunden würden. Die Technik könne in ihrer Perfektion leicht zum Phantasiekiller werden, warnte Carle und erinnerte an den großen französischen Regisseur Robert Bresson, der ein überzeugter Anhänger des sparsamen Kinos gewesen sei: "Mit der Zunahme der Mittel nimmt oft die Fähigkeit ab, sich ihrer zu bedienen".

So betonte auch Wolfgang Richter, daß die Demokratisierung des Mediums nicht automatisch auch Qualitätsstandards sichere. Von einem bemerkenswerten künstlerischen Aufbruch sei seiner Meinung nach kaum eine Spur zu finden. Im Gegenteil. Zunehmend werde in den Fernsehanstalten die Auffassung vertreten, daß die schnellere Videotechnik alles vereinfache, auch das Filmemachen insgesamt. Da könne im Zweifel der Regisseur gleich auch die Kamera führen und das Licht setzen. Solche Vorgaben verhinderten aber jedes kluge, sauber recherchierte „Storytelling“. So werde zwar schneller gedreht, aber auch oberflächlicher, liebloser und flacher.

Neben etlichen jüngeren Filmleuten widersprach aus dem Publikum vor allem die Videotrainerin Sabine Streich energisch diesem ihrer Auffassung nach sehr einseitigem Bild. Für sie seien die modernen experimentellen Möglichkeiten von nichtlinearen Schnittsystemen und die neuen direkten Aufnahmemöglichkeiten kleiner Digitalkameras ein unschätzbarer Gewinn. Es entstünden dabei Filme, die zu früherer Zeit gar nicht denkbar gewesen seien, wie beispielsweise aus der Skaterszene.

Dahingegen stellte sich für die Podiumsgäste Richter und Carlé die Frage, ob es sich bei solchen Skatervideos um ernstzunehmende Filmkunst handele. Doch als Fazit war man sich in dieser turbulenten Gesprächsrunde zumindest in einem Punkt einig: Jede Kunst entwickele sich aus der Leidenschaft, Geschichten zu erzählen. Und darum ginge es, nämlich dieses Feuer zu entfachen, ganz gleich, ob mit oder ohne Digitaltechnik.

Kategorie: Bericht/Meldung (GRIP INFO + Filmland Hessen-Beiträge)

Schlagworte: Filmhaus Frankfurt, Filmtechnik, Filmkultur

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