GRIP 04
12/1/1992
A Cinema That Looks At Itself III - CAMERA OBSCURA oder: Was in Bertoluccis 'Vor der Revolution' gekürzt wurde
Von Eckhard Schleifer
In der deutschen Fassung von Bernardo Bertoluccis PRIMA DELLA RIVOLUZIONE fehlt die Sequenz, in der Fabrizio, der mit seiner bürgerlichen Her- und Zukunft gebrochen hat, seine Tante und Geliebte Gina in den Palast von Fontanellato nahe Parma bringt.
Er führt sie hoch im Turm in einen dunklen Raum, eben die Camera Obscura, und läßt sie auf der Bank vor einer Art Holztisch mit Glaseinsatz zurück.
Doch sehen wir uns zunächst die Beschreibung der Sequenz an: Naheinstellung der Unterarme von Gina und Fabrizio; er führt sie an der Hand durch die Dunkelheit (Bild I).
Fabrizio (off): Man nennt es Camera Obscura, es ist ein Art Spiegeltrick; magisch, aber wahr; und doch ist es magisch.
Halbnah die Tür: Fabrizio verläßt das Zimmer und schließt hinter sich die Tür.
Nah: Gina (von vorne): sie senkt langsam den Kopf und blickt nach unten.
Farbige Einstellung mit Kasch in der Form eines Glaseinsatzes: Der von der Sonne beschienene Dorfplatz, auf dem Fabrizio ausgelassen herumspringt und -tanzt (Bild II).
Musik (Cembalo). (Das ursprünglich 300 Seiten starke Drehbuch führt dazu aus: Es ist eine Art optisches 'Wunder', ein einfacher Spiegeltrick aus der Renaissance, aber das Bild, das auf dem Glaseinsatz des Tisches erscheint, hat etwas Wunderbares in seiner Authentizität: Der Dorfplatz erscheint IN FARBE, in den wirklichen Farben des Lebens.)
Gina (off): Jetzt bist du glücklich, aber das wird nicht dauern, Fabrizio, ich weiß, daß es nicht dauern wird.
Halbnah (wieder s/w): Gina von vorne am Tisch sitzend (Bild III).
Gina: Es ist nutzlos, was willst Du? Du wirst dich erinnern, wie wenn ich tot wäre. Dann wird noch mehr Zeit vergehen und Du wirst mich vergessen haben. Schließlich wirst Du mich hassen. Ist es meine Schuld? Ich hatte Dir nichts versprochen, und Du kannst und darfst mir nicht böse sein. Ich liebe Dich, selbst wenn ich es Dir nie sagen werde. Du bist tausendmal, zehntausendmal besser als ich.
Erneut farbige Einstellung des Dorfplatzes mit Kasch: Fabrizio balanciert auf der Mauer (Bild IV).
Gina (off): Und ich, nichts. Ich bin nichts wert.
Halbnah (wieder s/w): Gina am Tisch.
Gina: Wie schön er ist, ich würde ihn stehlen, diesen Apparat, der mich mit Dir sprechen läßt, wenn Du nicht da bist.
Nah: Gina, die nach oben sieht, um das Funktionsprinzip des Tisches zu verstehen (Bild V). Dann blickt sie wieder auf den Tisch und fragt beunruhigt:
Gina: Wo bist Du?
Farbige Einstellung mit Kasch: Der leere Dorfplatz Nah (wieder s/w): Fabrizio öffnet die Tür, schließt sie wieder hinter sich und lehnt sich ganz außer Atem, mit dem Rücken an sie. Er lächelt Gina an (Bild VI) und geht zu ihr.
Amerikanische Einstellung: Fabrizio und Gina küssen sich. Im Hintergrund der Spiegel (Bild VII). Die Kamera schwenkt nach unten und zeigt die beiden vor dem Tisch sitzend (Bild VIII) beim folgenden Dialog:
Fabrizio: Hast Du gesehen? Hat Dir der Film gefallen? Ganz gut, nicht? Das war nicht schlecht als cinema verite. Und in Farbe!
Gina: Sie setzten sich hierhin, am Sonntag, um den Film der Mädchen, die zur Messe gehen, anzuschauen. Dann gab es den Jahrmarkt, die Gaukler, die dressierten Bären...
Fabrizio: Diesen Moment würde ich gegen keinen anderen tauschen. Und selbst, wenn er vorbei geht, macht mir das nichts, ich verzeihe es ihm.
Gina: Ich dagegen, ich bin nicht wie Du. Ich habe keinen Mut. Ich bin feige. Du kannst Dir nicht einmal vorstellen, was ich möchte. Ich möchte, daß sich nichts mehr bewegt, daß alles stillsteht, wie in einem Gemälde, und wir darin, auch starr.
Schau. Kein Mai mehr, kein Juni, Juli, August, September...
Bei Ginas letzten Worten schwenkt die Kamera nach oben und zeigt den Spiegel in der Wand (Bild IX).
Farbige Einstellung (ohne Kasch) des Dorfplatzes im Herbst; die Blätter des großen Baumes sind ganz gelb (Bild X). Musik/ Chorgesang.
Gina (off): September. Wer weiß, wo wir im Herbst sein werden?
Beim Sehen der deutschen Fassung, so die Erfahrung, stutzt man als Zuschauer kurz: Die 'neue Montage' schneidet nämlich Gina und Fabrizio, die sich - hoch oben vom Turm aufgenommen - durch das dicht bebaute Dorf dem Palast nähern, abrupt auf Gina und Fabrizio, die - in Normalperspektive gefilmt - auf dem Land auf ein einsames Haus zugehen, um den dort lebenden 'Lehrer' Fabrizios, Cesare, (eine der vielen Vaterfiguren in Bertoluccis Kino) zu besuchen. Aber im nächsten Moment ist die Verwunderung wieder vergessen.
Wirklich skeptisch wurde ich erst bei der Lektüre des Hanser-Bandes zu Bertolucci, wo es in der beschriebenen Interpretation zu PRIMA DELLA RIVOLUZIONE heißt: Mit Fabrizio zusammen sitzt sie (Gina E.S.) in einem optischen Zimmer im Dunkeln, in einer Art Camera Obscura: an die Zimmerdecke reflektiert sich der große Platz von Parma und sein Verkehr.
Nun handelt es sich zwar weder, wie wir gesehen haben, um die Piazza Garibaldi in Parma (auch der 'Verkehr' beschränkt sich auf zwei Fußgänger), noch fungieren die Zimmerwände als quasi-Leinwand (hier kommt einem eher der Bezug auf Platons Höhlengleichnis in IL CONFORMISTA (Der große Irrtum) in den Sinn). Aber am Fehlen der Camera Obscura-Szene war nicht zu rütteln und die letzten Zweifel an ihrer Existenz in der Original fassung bzw. an ihrer Kürzung durch die deutsche 'Bearbeitung' beseitigte das in L‘Avant-Scene du Cinema (Nr. 82, Juni 1968) veröffentlichte Einstellungsprotokoll des Films.
Doch wie nun an die fehlende Sequenz herankommen? Glücklicherweise verfügt Schauinsland Video über gute Kontakte nach England, so daß ich von dort eine englisch untertitelte Originalfassung von PRIMA DELLA RIVOLUZIONE erhalten konnte (dar aus stammen auch die hier abgedruckten Bilder).
An dieser Stelle könnte sich nun eine ganze Abhandlung über das Pro und Contra von Film bzw. Video anschließen, denn ist nicht im vorliegenden Fall das Video der 'bessere Film'? Ich will dieses Beispiel aber nur benutzen, um Enno Patalas' Forderung zu untermauern, daß zu jedem Kommunalen Kino eine Videothek und ein Videokino gehören.
Doch zurück zur Camera Obscura Sequenz. Warum soviel Aufhebens wegen gerade einmal 3 1/2 Minuten?
Zunächst einmal sticht diese Sequenz dadurch hervor, daß sich in ihr die einzigen farbigen Einstellungen (insgesamt vier) des ansonsten in schwarz/weiß fotografierten Films finden. Außer dem sind die Aufnahmen in der Camera Obscura mit Farbfilm gedreht, so daß das Schwarz eine bläuliche Note bekommt.
Im Kontext der Gesamtstruktur des Films, der in einer aufsteigen den und einer abfallenden Linie konstruiert ist, markiert unsere Sequenz genau den Endpunkt der Aufwärtsbewegung des ersten Teils. An einem 'erhöhten' Ort, nämlich oben im Turm, erreicht auch die Beziehung Fabrizio-Gina ihren Höhepunkt; mit jetzt bist Du glücklich kommentiert Gina Fabrizios kindlich-naiven Freu den- und Glückstaumel; und Fabrizio selbst unterstreicht das Besondere, Einmalige dieses Moments dadurch, daß er ihn gegen keinen anderen tauschen (würde). Doch ist bei der älteren und reiferen Gina das Hochgefühl bereits durch die Vorausahnung der Zukunft gebrochen: Das Glück wird nicht dauern. Du wirst mich vergessen, mich schließlich hassen, weshalb sie auch am liebsten die Zeit anhalten würde - Ich möchte, (... ) daß alles stillsteht-, um diesen außergewöhnlichen Augenblick zu bewah ren. Sie will sozusagen das 'farbige' Glück vor der 'Schwarzweißen' Desillusionierung retten.
Daneben stellt unsere Sequenz einen besonderen Bezug zum größten je geschriebenen Roman (Bertolucci), Stendhals 'Die Kartause von Parma' her; einen Bezug, der eindeutig hin ausreicht über die hommagehafte Gleichbenennung der Protagonisten einerseits, die dem Regisseur nach eigenen Wor ten Sicherheit gab (Fabricio del Dongo = Fabrizio / Gina Sanseverina = Gina / Clelia Conti = Clelia) und andererseits die inhaltliche Übernahme der Liebe von Fabrice zu seiner Tante Gina.
Im Roman wird Fabrice in den Farnese-Turm gesperrt, ein berüchtigtes Gefängnis, das seine Höhe von 180 Fuß zur Beherrscherin von Schreckens Gnaden dieser ganzen Ebene zwischen Mailand und Bologna macht (dieses wie alle folgenden Zitate aus Die Kartause von Parma). Aber ist denn das ein Gefängnis? Habe ich mich vor alledem hier so sehr gefürchtet?
muß sich Stendhals Held bald fragen; denn er ist von dessen 'Reizen' ganz hingerissen: da ist die Rede von einer zauberhafte(n) Welt, von einsame(n) Höhen, wo man hundert Meilen von Parma und von allen Kleinlichkeiten und Bosheiten entfernt ist; da bietet sich der erhabene Anblick der Alpengipfel, vor allem geht es Fabrice aber um den Anblick der Clelia Conti, der Tochter des Gouverneurs, die im Palazzo zu Füßen des Turms wohnt.
Doch die beiden ungeheuren Blenden, die man seinem Fenster anbringt, machen Fabrice's Freude schnell ein Ende-vorübergehend zumindest, denn: Am Abend dieses Tages, an dem er seine hübsche Nachbarin nicht gesehen hatte, kam ihm ein prächtiger Einfall: Mit dem Eisenkreuz des Rosenkranzes, den man allen Gefangenen bei ihrer Einlieferung ins Gefängnis aushändigt, begann er, und zwar mit Erfolg, die Lichtblende zu durchbohren.
Fabrice sitzt also - wie Gina im Turm von Fontanellato (und wie der Kinozuschauer) - in einem dunklen Raum und sieht durch ein eigenartiges Guckloch seine geliebte Clelia - wie Gina auf dem Glaseinsatz den geliebten Fabrizio (und wie der Zuschauer auf der Leinwand den Film).
Unbedeutsam ist in diesem Zusammenhang, daß im Roman Fabrice's Liebe für Clelia die für Gina übersteigt, während im Film von einem zärtlichen Gefühl Fabrizios für Clelia, dieses Abbild der versteinerten bürgerlichen Welt, keine Rede sein kann.
Entscheidend ist vielmehr die Situation eine Ur-Kino (Urs Jenny): Fabrice sieht sich als Voyeur den Film der geliebten Clelia ebenso als cinema verite in Farbe an wie Gina den Film des geliebten
Fabrizio. Dazu Urs Jenny: Außen ist real; Innen ist fiktiv. Innen hat a priori mit Film zu tun, weil sowohl die Kamera wie das Kino einen abgeschlossenen Raum darstellen, eine Camera Obscura. Bertolucci hat dieses für ihn archetypische Motiv seit der Fontanellato-Szene mit dem nach Innen gespiegelten Außen beharrlich weiterverfolgt (Filmkritik 3/71).
Mit der Frage Was ist Kino?, die Bertolucci nicht nur in PRIMA DELLA RIVOLUZIONE lustvoll stellt, eng verbunden ist das Para dox der abwesenden Anwesenheit; im Roman ist Fabrice von Clelia nicht nur räumlich, sondern auch politisch (sie gehören verfeindeten Lagern an) getrennt, was sie für ihn doppelt unerreichbar macht; trotzdem kann er sie sehen und mit ihr mit Hilfe der Alphabete (ein Blatt Papier für jeden Buchstaben) kommunizieren. Gerade diese abwesende Anwesenheit Clelias veranlaßt Fabrice zu folgender Überlegung: In meinem ganzen Leben war ich nie so glücklich! Ist es nicht spaßig, daß das Glück im Gefängnis meiner harrte? "
Der Film verbalisiert dieses Paradox nur ein einziges Mal, eben in der Camera Obscura, als Gina schwärmt: Wie schön er ist, ich würde ihn stehlen, diesen Apparat, der mich mit Dir sprechen läßt, wenn Du nicht da bist. "
Im filmischen Stil von PRIMA DELLA RIVOLUZIONE ist dieses für Kino überhaupt grundlegende Konzept vom Anfang (wir hören Fabrizios Stimme aus dem Off, sehen aber Schwarzfilm) bis zum Ende (Fabrizios Gesicht ist nicht mehr zu sehen) wie ein roter Faden präsent, so daß T. Jefferson Kline in seinem Aufsatz The absent presence: Stendhal in Bertolucci's PRIMA DELLA RIVOLUZIONE mit Recht behaupten kann, Bertolucci übersetze Stendhals literarischen Inhalt in die Sprache des Kinos (Cinema Journal 23, No. 2, 1983).
Freilich unterscheidet sich die Camera Obscura vom simplen Voyeur-Kino Fabrice's durch das zusätzliche Element des Magischen, das mit dem Wahren zu einem weiteren Paradox verschmilzt; gemeint ist das Spiel mit den Spiegeln, der Spiegeltrick, die Trompe-I'oeil-Einrichtung (Urs Jenny). Bertolucci bringt den Spiegel in unserer Sequenz zweimal ganz bewußt in seiner Vermittlungs- bzw. Bindegliedfunktion zwischen Außen und Innen ins Bild, einmal sogar in Nahaufnahme (Bild IX).
Auch in diesem Falle stellt, wie schon bei der 'abwesenden Anwesenheit', die Thematisierung des Spiegels/der Spiegelung in der Camera Obscura-Sequenz nur die Spitze des Eisbergs dar. Die Hauptfigur Gina wird von Bertolucci fast obsessiv bei den meisten ihrer Auftritte mit Spiegeln/Spiegelungen in Verbindung gebracht.
Schon ihre Einführung in den Film geschieht als Spiegelung ihrer Schwester, der Mutter Fabrizios, was den Schluß nahelegt, daß der Inzest zwischen Fabrizio (Neffe) und Gina (Tante) im Grunde den zwischen Mutter und Sohn meint; nachdem sich Fabrizio und Gina zum ersten Mal geliebt haben, vergleicht sich Gina außerdem explizit mit ihrer Schwester. Bertolucci selbst ist sich dieser 'Verschiebung' erst nach LA LUNA bewußt geworden, wo es ganz direkt um ein Mutter-Sohn Verhältnis geht.
Übrigens ist auch in 'Die Kartause von Parma' der wirkliche Inzest nicht der manifeste zwischen Fabrice und Gina, sondern der symbolische zwischen Fabrice und Clelia; nicht zufällig verbringt Fabrice genau 9 Monate im 'Schoß' des Turms, wo er von der 'Mutter' Clelia mit Essen versorgt und vor Angriffen beschützt wird; durch seine 'Neugeburt' wird Fabrice ein anderer Mensch:
Wie verschieden bin ich doch, sagt er sich, von jenem leichtfertigen und liederlichen Fabrice, der vor 9 Monaten hier einzog!
(Die Kartause von Parma).
Doch weiter mit dem Spiegelmotiv, für das ich noch ein Beispiel anführen möchte: Eines Nachts telefoniert Gina lange mit ihrem Psychiater (eine kleine Hommage an den Rossellini des Teils UNA VOCE UMANA aus L'AMORE) und als Zuschauer merkt man erst, als Gina nahe an den Spiegel herangeht, daß man die ganze Zeit nur ihr Spiegelbild sah. Es ist, als wollte Bertolucci sagen: Vergeßt nicht, daß das, was ihr die ganze Zeit für real haltet, 'nur' ein Bild ist. Wobei wir wieder bei der Lieblingsbeschäftigung des Regisseurs wären, dem Publikum beizubringen, was Film/Kino ist.
Lassen wir also den Meister selbst mit den Worten schließen, die er in PRIMA DELLA RIVOLUZIONE seinem Freund und alter ego Gianni Amico (der nicht nur die Produktion des Films betreute, sondern auch am Drehbuch mitarbeitete und Bertolucci bei der Regie assistierte), in dessen Rolle als Freund Fabrizios in den Mund legt (natürlich trägt Amico als unverzichtbares 'Markenzeichen' einen Schal um den Hals):
Kannst Du ohne Hitchcock und Rossellini leben? (... ) Ihr sagt, daß Resnais und Godard Evasions-Filme machen. Im Grunde ist aber EINE FRAU IST EINE FRAU viel engagierter als alle Filme von Lizzani und de Santis, und in einem gewissen Sinn sogar von Franco Rossi. (... ) Film ist eine Sache des Stils und Stil ist eine Sache der Moral. (... ) Vergiß nicht, Fabrizio! Man kann nicht leben ohne Rossellini!
Eckhard Schleifer
P.S.: Die deutsche Synchronisation erspart allerdings die Kritik Bertoluccis, weil sie ihn in Franco Rossi verwandelt.
Kategorie: Rezensionen (Bücher und Film bzw. GRIP Kritik)
Schlagworte: Spielfilm, Filmtheorie/Filmwissenschaft
