GRIP 01
4/1/1992
Ein Mann geht von rechts nach links
Wer glaubt, Kassel sei die cineastische Provinz in der cineastischen Provinz, der muß nicht erst mit dem Oscar für die ’Balance’ der Brüder Lauenstein davon überzeugt werden, daß sich ein Blick dorthin lohnen kann, besonders, wenn er auf die beiden Regisseure Peter Petersen und Manfred Seiler fällt.
Von Thomas Mank
Also dann: Auf nach Kassel! Mit dem ICE schleiche ich durch Hessen, die Enge des Großraumwagens wird durch das RossiniPotpourri (wir sitzen im ICE 'Rossini’) per Kopfhörer nur wenig gemildert. Die Fahrt ist wie eine Zeitreise; kaum in Kassel angekommen, füllt man sich tatsächlich Jahrzehnte zurückversetzt. Keine alte Villa, kein postmodernes Hochhaus stört die Erinnerung an die gute alte BRD. Mit der Straßenbahn geht’s in Richtung 'Weinberg’, Vis a Vis der Dokumenta. Umsteigen im Schneegestöber am Rathaus - man muß an Hans Eichel denken. Endlich angekommen, sitze ich mit Manfred Seiler in der Küche und wir plaudern. Die Wohnung ist noch nicht ganz eingerichtet, denn Manfred zieht gerade ein, während Peter Petersen auszieht, nach München. Manfred sieht müde aus; er arbeitet einmal in der Woche als Küchenchef in einer Diskothek. Schließlich kommt auch Peter dazu und aus der Plauderei über dieses und jenes wird unvermittelt das Gespräch. Im Hintergrund hören wir die Filmmusik aus ’ET’. Petersen(28) und Seiler(30) gehören der neuen Generation von Filmemachern an, die nun die Hochschulen verlassen und deren visuelle Phantasie früh von amerikanischen Serien, wie sie im Deutschen Fernsehen der 60er Jahre zu sehen waren, geprägt worden ist. Während gleichzeitig Fernsehbilder aus dem Vietnam-Krieg wesentlich zur Politisierung einer ganz anderen Generation beitrugen, gehörte hier das noch schwarz/weiße Medium schon zum Familienalltag, ist die ’Shiloh-Ranch’ verknüpft mit Erinnerungen an die Bockwürstchen oder dem Ritual des wöchentlichen Bades am Samstag Abend. Die Ikonen einer kollektiven Erinnerung heißen nun 'Bezaubernde Jeannie’ und ’Daktari’. So ist es nicht verwunderlich, daß der Umgang mit den neuen Medien selbstverständlich ist und auf keine ideologischen oder moralischen Hindernisse stößt, im Gegenteil. Peter Petersen sieht denn auch den Umgang mit Fernsehen und Video folgerichtig nicht konträr zum Filmemachen, sondern vielmehr als eine unumgängliche Bereicherung. Konkret wird die Möglichkeit genutzt, sich Film-Bilder unmittelbar aneignen zu können; Filme können am Bildschirm analysiert, dabei beliebig angehalten, wiederholt und unterbrochen werden. Das ideale Medium steht allerdings noch aus; die Bildplatte, auf der das Signal - und als ein solches verbleibt das Filmbild - unvergänglich zur Verfügung stünde. So ist der Weg zum Film als Erlebnis und Erfahrung auch für Filmemacher nicht mehr vom Kino abhängig; die wichtigsten Entdeckungen können viel besser am Bildschirm gemacht werden. Und doch sind die großen Vorbilder für Peter Petersen und Manfred Seiler diejenigen Regisseure, die ausschließlich für die Leinwand gearbeitet haben, allen voran David Lean. Tatsächlich hat die Phantasie und Lebensplanung mittlerweile die wahren Mythen Hollywoods erreicht, verbunden mit dem Wunsch, die Mythen der Kindheit mit eigenen Bildern neu zu erschaffen. Ein Widerspruch? Nicht weniger als das Nebeneinander von ComicHeften und Fachliteratur, die in großen Stapeln jeden Winkel der Wohnung von Manfred Seiler und Peter Petersen ausfüllen. So erscheint denn auch ihr erster fertiggestellter Film ’Von Oben’ in erster Linie wie eine Talentprobe; das Thema Kindesmißhandlung tritt hierbei scheinbar in den Hintergrund, sofern man denn einen Anspruch auf moralische Verwertbarkeit oder soziale Aufklärung erheben würde. Vielmehr verweist die Inszenierung auf den Wunsch der Filmemacher nach dem großen, klassischen Kino.
Komprimiert auf die Form eines 10 Minuten langen Kurzfilms sehen wir eigentlich einen Langfilm, dessen perfekte Bilder, rasante Schnitte und klassische Dramaturgie viel eher an Filme der schwarzen Serie erinnert. Um dieses zu erreichen standen den Filmemachern ein Minimal-Budget von ca. 10.000 DM und vier Monate Zeit zur Verfügung. Dabei wurde aber alles vermieden, was in irgendeiner Weise als Improvisation gedeutet werden könnte. Keine Kommilitonen als Schauspieler, sondern versierte Profis wie Verena Planger (u.a. ’Britta). Was an technischem Aufwand nicht geleistet werden konnte, das ersetzt die eindrucksvolle Kameraführung von Kazimierz Benkowski.
Benkowski, einen polnischen Filmemacher, der in Kassel im Exil lebt und dort an der Hochschule als Assistent arbeitet, lassen Petersen und Seiler noch als einzigen gelten, von ihm haben sie das Handwerkszeug gelernt. Auch zur ’Szene’ in Kassel haben sie eigentlich weniger Kontakt. 'Das sind eher die Leute, die nur die Kunst im Kopf haben. Ist zwar sehr spannend, aber nicht so unser Ding’ sagen sie. Peter Petersen, gebürtig in Husum, kam über den Umweg der Graphik zum Film und eigentlich 'durch Zufall’ an die Kasseler Schule. Manfred Seiler stammt aus Worms; seit seiner Kindheit leidet er an einem Sehfehler und ’die Bilder im Kopf waren einfach die besseren’. Auf der Suche nach einem Medium, daß 'genauso schlecht sieht’ wie er, erschien im hier zuerst ein altes VideoBandgerät geeignet, dann folgten einige S-8 Filme und schließlich die Filmklasse Kassel. Hier hat er Petersen kennengelernt, die Bilder im Kopf waren mittlerweile ’70 mm breit’ und der Wunsch, die Bilder im Film wirklich werden zu lassen, bildete die Grundlage der gemeinsamen Arbeit. Seitdem sind viele gemeinsame Projekte entstanden, jedoch erst der Film 'Von Oben’ ist so geworden ist, wie sie sich das vorgestellt haben. Die meiste Zeit wird von den Filmprojekten in Anspruch genommen, es scheint fast so, als ob nicht der eigentliche Film, sondern vielmehr das Planen, das Projekt, die Idee im Mittelpunkt des Interesses steht. Und die haben für Peter allerdings eine geringe Halbwertszeit. 'Was mich heute interessiert, daß kann mir morgen schon egal sein.’ Auf diese Weise füllen die Drehbücher bereits ’eine ganze Kiste’. Filme entstehen für Peter Petersen und Manfred Seiler vor allem erst einmal im Kopf, und es wird ein Drehbuch gemacht. Ob daraus ein konkreter Film werden kann, ist zunächst nicht so wichtig. Das Drehbuch schreiben und lesen ist denn auch eine ganz wichtige Grundlage der gemeinsamen Arbeit. Beide lesen mittlerweile Drehbücher wie ein Musiker seine Partitur. 'Nach 10 Minuten weiß ich, wie der Film aussehen wird, kann ich entscheiden, ob er interessant ist, oder nicht’ stellt Manfred fest. Der Umgang mit Drehbüchern eröffnet mittlerweile auch den Einblick in das Geschäft mit Film; in München arbeitet Petersen für die Firma ’VPS’, wo er eine wöchentliche Flut von Drehbüchern sichtet und entscheidet, welche Filmprojekte für die Videoauswertung weiterverwendet werden. Bereits selbstverständlich bewegt er sich in den Kriterien internationaler Großproduktionen und scheint bereits weit entfernt von den Vorstellungen, wie sie in einer deutschen Filmklasse in Kassel gelernt werden können. Dazu paßt auch die Ablehnung von Institutionen wie der Filmförderung. ’Zu viele Leute, die keine Ahnung von Film haben’, besser wäre es, so Petersen, wenn statt einem Gremium eine Person über Förderung entscheiden und dafür auch später gerade stehen würde. So verbleibt die Sache zu sehr im Anonymen, und im Übrigen sind die Fördersummen, gerade hier in Hessen, so gering, daß man viel, zuviel Zeit auf auf das Hausieren bei den Förderungen verwenden müßte. Damit allerdings wollen sich Manfred und Peter nicht befassen. ’Wie kann man lernen, wenn man die Filme nicht mal zeigen kann?’ fragt sich - nicht nur - Peter Petersen und spielt damit auf die Erfahrung an, die sie mittlerweile mit 'Von Oben’ hätten sammeln können, wenn man sie hätte sammeln lassen können... Oberhausen hat den Film erst kürzlich abgelehnt, wie übrigens erstaunlicherweise alle hessischen Filme, ebenso Hof. Aber, 'alles Schnee von gestern’, was zählt sind die nächsten Projekte. Was es genau sein wird, wollen sie nicht verraten. Nur soviel, es wird ein langer Film werden. Vielleicht auch nur ein dickes Drehbuch und wenn ich mich nicht täusche, dann liegt eben ein solches von Peter Petersen neben dem Küchentisch. Von der beliebten Zustandsbeschreibung des deutschen Films, lassen sich die beiden nicht weiter irritieren. ’Das läuft eh’ alles anders’ weiß Peter Petersen, und solange die Ideen nicht ausgehen sowieso. Wir sitzen also in Kassel und sprechen vom internationalen Filmgeschäft. Größenwahn? Utopie? Zugegeben, anfangs klingt es eher irritierend, aber am Ende des Gesprächs bin ich mir sicher, daß es klappen könnte. Nicht nur das Selbstbewußtsein und die Fähigkeiten sind vorhanden; vor allem eines ist klar: Die beiden legen ihren Ideen konsequent Anspruch und Erfahrung zugrunde und scheinen wenig geneigt, Kompromisse oder Abstriche von ihren Zielen zu machen. Wie funktioniert das eigentlich, wenn der eine in Kassel und der andere in München lebt? Klaffen dann nicht irgendwann einfach die Erfahrungen zu weit auseinander, um noch gemeinsam Projekte auszudenken? ’Die Gefahr besteht natürlich, daß man sich auseinander bewegt’ sagt Peter Petersen, während Manfred Seiler zwar zustimmt, aber doch ein wenig schluckt. Schließlich ist er in Kassel. Aber was gelten diese räumlichen Distanzen im Zeitalter der schrankenloser Kommunikation? Man schickt sich die Bücher, tauscht Kassetten, und läßt die Computer miteinander faxen. Kassel ist München, München ist Hollywood, Hessen ist Amerika! Warum nicht?
Kategorie: Personenportrait (GRIP FACE)
Schlagworte: Filmemacher*in, Kurzfilm, Nachwuchs
