GRIP 01

4/1/1992

Das Werkstattkino mal seh’n

Unter der Holzbalkendecke hängt bedrohlich eine überdimensionale Mickey Mouse - sie zierte einst die Fassade des Filmmuseums - die klaustrophobischen Naturen den Aufenthalt in dem kleinen Kino durchaus erschweren kann. Oder ist diese Mickey Mouse vielleicht eine Metapher für das Ende der Ära unabhängiger Programmkinos, daß gleichsam wie ein Schwert am seidenen Faden über unseren Köpfen hängt?

Von Thomas Mank

Eingerichtet in der Sporthalle einer Blindenanstalt (sic!) finden wir das Werkstattkino mal seh’n in der Adlerflychtstraße, an den ersten Metern der Eckenheimer Landstraße im Frankfurter Nordend. Damit ist das mal seh’n nur einen Steinwurf weit von der eigentlichen City entfernt, und gut zu erreichen.
Es werden insgesamt 28 Vorstellungen in der Woche gegeben, davon finden drei unter der Woche statt und Donnerstag bis Samstag fünf + Spätvorstellung. Dazu gibt es noch diverse Sonderveranstaltungen, besonders erwähnt seien hier die Festivals und Filmreihen, die die Qualität des Programms nachhaltig prägen. Das Programm selbst wechselt sehr häufig, lediglich die raren Erstaufführungen werden bis zu zwei Wochen gespielt. Das mal seh’n arbeitet ohne Prolongation, d.h. ist keinem Verleih assoziiert, der sich die Spielzeit eines Filmes vorbehält und je nach Erfolg verlängert.
Wir betreten das mal seh’n durch einen schlauchigen Gang, wo Fenster einen ersten Blick in die Kneipe ’Filmriss’ freigeben. Sind schon Bekannte da? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, das mal seh’n ist Treffpunkt eines Teils der Frankfurter Filmszene. In jedem Fall wird man die Gelegenheit nicht ungenützt verstreichen lassen wollen und sich in der einen oder anderen Weise an der Bar für das Kino präparieren. Unvermittelt dann der Übergang in das Kino selbst: Kartenabriß an der metallenen Tür, zwei Schritte über einen winzigen Flur, vorbei an der Toilette, wo zweifelsfrei mit Frischeduft-Würfeln gearbeitet wird. Der Kinosaal ist klein und läuft in sanftem Winkel auf die Leinwand zu. Die Seitenwände sind mit Stoff verkleidet. In dem ca. 80 qm großen und ca. 5 m hohen Raum befinden sich 72 Sitze, die Notsitze nicht mitgerechnet. Die Stuhlreihen sind abschüssig angelegt, was allerdings nicht den Eindruck von Enge verhindert.
Von Nachteil erweist sich die totale Holzkonstruktion des Raumes; aus der Vorführkabine sind manchmal mechanische Geräusche zu hören, wenn der Film diese nicht gerade übertönt und bei Nachmittagsvorstellungen ist hektische Betriebsamkeit im ersten Stock durchaus knarrend vernehmbar (kann in Kombination mit der Decken- Mickey-Mouse geradezu unheimlich wirken). Allerdings sollen diese Störquellen bald beseitigt werden.
Der Abstand zur Leinwand ist, gemessen am Raumvolumen, großzügig; Platz genug, um auch Gäste vorstellen zu können. Die Leinwand selbst hat eine Fläche von etwa 20 qm, 5 m in der Breite und ca. 3.80 in der Höhe. Vorgeführt werden alle gängigen Formate, wobei der Kasch vom Vorführer oder der Vorführerin mechanisch eingestellt werden muß, per Handkurbel neben der Leinwand und somit vor den Augen der Anwesenden. Das kleine Ritual vermittelt ein geradezu anachronistisches Kinogefühl und kann sehr zum folgenden Filmgenuß beitragen. Dieser wird schließlich ermöglicht durch Projektoren, die im Abstand von ca. 9 min einer Vorführkabine untergebracht sind. Diese Kabine ist über dem oben erwähnten winzigen Flur gebaut und ragt in den Kinoraum hinein.
Das mal seh’n ist eines der wenigen Kinos, die über eine fest eingerichtete Abspielmöglichkeit für 16 mm und S-8 verfügen. Die Projektion selbst, zu früheren Zeiten bisweilen Anlaß zur Kritik, ist ausgezeichnet. Allerdings ist der 16 mm- Projektor so aufgebaut, daß sich seitlich im Bild Unschärfe bemerkbar machen kann - ein Umstand, der auch im Kommunalen Kino nicht vermieden werden konnte. Als Ersatz für das kleine ’Video-Kino’ im ersten Stock gibt es nun im Kino selbst einen Videoprojektor, der eine Projektion in hervorragender Qualität ermöglicht, wie sie ihresgleichen in der Stadt sucht. Der Ton schließlich wird in Mono von einem Lautsprecher erzeugt, der direkt unter der Leinwand zentriert steht und eine der Raumgröße angemessen gute Qualität liefert.
Insgesamt läßt sich feststellen, daß das mal seh’n sicher nicht zu den konfortabelsten Kinos gehört. Von solchen Äußerlichkeiten lassen sich aber nur diejenigen beeindrucken, die sowieso mit dem überwiegenden Teil des mal seh’n-Programms wenig anzufangen wissen dürften. Auf die entscheidenden Aspekte Projektion, Ton, und Bild reduziert liegt die Qualität des Kinoereignisses mal seh’n vor allem in der Arbeit der KinomacherInnen begründet, d.h. in dem Bemühen, ein in jeder Weise gutes Programm zu zeigen.
In den glücklicheren Tagen, als es in Frankfurt noch mehr Programmkinos gab, teilten sich das mal seh’n, Berger Kino, Harmonie, Chapter Two und das Kommunale Kino die Stadt ’Hibb’ de Bach’ und ’Dribb’ de Bach’ (= Diesseits und Jenseits des Mains) in gleiche 'Herrschaftsbereiche’ auf; heute allerdings kann das mal seh’n die traurige Ehre für sich beanspruchen, das letzte originäre Programmkino in Frankfurt zu sein. Das Kommunale Kino erlebte die Apotheose im Deutschen Filmmuseum, aus Chapter Two wurde das Orfeo, und damit ebenso wie Harmonie und Berger Kino mehr und mehr zum Erstaufführungskino. Neben den zahlreichen Gründen, die man für diese Veränderungen aufzählen könnte, war es auch der Erfolg, den die Programmkinos beim Publikum hatten. Räumliche und technische Verbesserungen wurden notwendig, um den steigenden Besucherzahlen Rechnung zu tragen, was diese Kinos wiederum für die Verleiher als Abspielstätten interessant machte.
Das mal seh’n wird in absehbarer Zeit sicher nicht diesen Weg gehen können, und im achten Jahr seit der Gründung des Trägervereins 'zur Förderung von Lichtbildern und Filmen’ wird die Arbeit zunehmend schwerer. Das Nordend, gerne bewohnt von Filmern, Studenten und Filmprofessorinnen, also dem potentiellen Publikum des Kinos, ist den gleichen strukturellen Veränderungen unterworfen wie der Rest Frankfurts; der Mietvertrag für die Räumlichkeiten vom mal seh’n gilt nur noch für drei Jahre. Die Zukunft wird daher mit zwiespältigen Gefühlen betrachtet; Eva Heldmann, Filmemacherin und seit kurzem auch Teilhaberin, macht sich Über das Werkstattkino mal seh’n als Betrieb keine Illusionen. Die Rechnung ’geht günstigstenfalls gegen Null auf’. Das heißt zwar nicht, daß sich das mal seh’n gänzlich den Mainstream-Filmen hingeben würde/wollte, aber hin und wieder doch ein bischen. Allerdings hat das mal seh’n seinen Ruf eben gerade durch außergewöhnliche Programmarbeit, was ein 'Abonnement’ auf diverse Filmpreise eingebracht hat, die sich denn auch in geradezu regelmäßigen Abständen einfinden und als Urkunden mittlerweile die Wand des Verwaltungsbüros zieren. Die damit verbundenen Preisgelder kommen gelegen und helfen, das Kino vor dem Schlimmsten zu bewahren. Das Programm des mal seh’ns ist nach wie vor eines der besten in der Region; für viele Filmemacher ist es einer der wenigen verblieben Orte, um noch Filme außerhalb eines Festivals zeigen zu können. Für das Publikum seltene Gelegenheit, Filme sehen zu können, die in anderen Kinos nicht - mehr - gespielt werden. Eva Heldmann und Antje Witte, die maßgeblich für die Programmgestaltung mitverantwortlich sind, haben hierzu nicht nur die Kompetenz, sondern auch den notwendigen Enthusiasmus. Trotzdem: Enttäuschung ist spürbar, wenn diese Arbeit immer wieder auf Widerstände stößt. So wird das mal seh’n weitgehenst von den Feuilleton-Schreibern der einschlägigen Tageszeitungen ignoriert, die stattdessen konfortablere Filmereignisse bevorzugen. Ein Mangel an Kritik und Berichterstattung, der sich natürlich auch auf die Besucherzahlen auswirkt. Denn viele Filme bedürften eben doch der Vermittlung oder zumindestens einer Aufmerksamkeit, wie sie das Programmheft des mal seh’ns nur beschränkt liefern kann. Enttäuschend für Eva Heldmann ist auch die zunehmende Tendenz selbst engagierter Verleiher wie die Edition Salzgeber aus Berlin, sich verstärkt an den Besucherzahlen der Kinos zu orientieren und ihre Aufführungen entsprechend zu disponieren. Ganz zu schweigen von Filmen, die von den Verleihern bewußt zurückgehalten werden, weil beispielsweise die Rechte neu eingeholt werden müßten. Ein Teufelskreis, wie es scheint.
Hans Bornemann, Gründer des Kinos, sieht die Entwicklung mit gemischten Gefühlen; die Zukunft des mal seh’ns möchte er nicht ausschließlich auf der Basis städtischer Subvention gesichert sehen, sollte es dafür angesichts der momentanen Situation in Ffm überhaupt eine Möglichkeit geben. Und trotz berechtigter Skepsis, was die Möglichkeiten der Programmkinoarbeit grundsätzlich anbelangt, kommen immer wieder neue Ideen. Vielleicht eine Wochenschau auf Video? Oder mal wieder eine Woche nur Kurzfilme zeigen? Oder gar ein 'alternatives Programmkino-Multiplex’ gründen? Wer weiß.
In jedem Fall: Der Niedergang des mal seh’ns wäre nicht nur ein Verlust an Kinokultur, sondern auch ein Menetekel für die unabhängige Filmszene in Frankfurt.

Kategorie: Firmenportrait (GRIP FACE)

Schlagworte: Kino

Artikel im PDF aufrufen