GRIP 66
20.12.2022
Zurück ins Kino - Zukunftsstrategien
Die Kinobranche sinnierte 2022 während mehrerer Branchentreffen über die Zukunft des Kinos nach der Pandemie. Kann der Kinoraum nur noch als Eventort überleben? Wie schafft man es, dass sich der Kinosaal wieder als regulärer Kulturort etabliert, gar als sozialer Raum? Alles eine Sache des Marketings? Doch hierfür braucht es zusätzliches Personal. Doch das muss man in Zeiten von Inflation und Energiekrise bezahlen können. Staatliche Energiehilfen greifen hier zu kurz.
Von Reinhard Kleber
Hierzulande gehen aktuell schätzungsweise 30 Prozent weniger Menschen ins Kino als vor der Pandemie. Im ersten Halbjahr 2022 wurden laut Filmförderungsanstalt rund 33,2 Millionen Eintrittskarten verkauft. Das waren zwar deutlich mehr als ein Jahr zuvor, als die Filmtheater weitgehend im Lockdown verharrten, aber etwa 20 Millionen Tickets weniger als vor der Viruskrise. Immerhin gibt es eine positive Nachricht: Das vielfach befürchtete Kinosterben wegen Corona ist bisher ausgeblieben. „Besonders erfreulich ist, dass unsere Kino-Infrastruktur bislang keinen Schaden genommen hat“, erklärte FFA-Vorstand Peter Dinges im Februar. Die Zahl der Standorte, Kinounternehmen, Spielstätten, Kinosäle und Sitze sei im Vergleich zu den Vorjahren weitestgehend gleichgeblieben.
Kinoräume der Zukunft
Die Gründe für die derzeitige Abstinenz sind vielfältig: Scheu vor geschlossenen Räumen, veränderte Gewohnheiten, Rückzug ins Private, Geldknappheit, die Bequemlichkeit Heimkino, um nur einige zu nennen. Hat das Medium nach rund 127 Jahren ausgedient, wie manche Kulturpessimisten meinen? Dass es nicht einfach so weiter gehen kann wie vor der Corona-Pandemie, ist in der Film- und Kinobranche angekommen. Zumindest zwei große Konferenzen haben sich zuletzt ausführlich mit existenziellen Fragen um die Zukunft des Kinos befasst.
Zum zweiten „Kongress Zukunft deutscher Film/Forum Europa“, der im Mai 2022 im Rahmen des LICHTER Filmfest Frankfurt International in Frankfurt stattfand, erschien die Publikation „Das Andere Kino. Texte zur Zukunft des Kinos“ mit Artikeln und Interviews zum Themenkreis, die eine große Bandbreite von Positionen darstellten. Da ist etwa der pessimistische Ansatz von Lars Henrik Gass, dem Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen. „Man fragt sich, wozu Kino eigentlich überhaupt noch gut sein soll, denn die Verwertung von Filmen passiert mittlerweile effektiver auf digitalem Weg.“ Der FAZ-Redakteur Niklas Maak sieht durchaus Entwicklungsmöglichkeiten. „Kinos bieten immer noch einen Erfahrungsraum, den genügend Leute interessant finden und mögen. Etwa wenn das Foyer eines Kinos eine Aufenthaltsqualität erhält, wo sich auch mal drei Stunden bequem verbringen lässt.“ Und die Berliner Medienwissenschaftlerin Daniela Kloock stellte einige unabhängige Initiativen wie die Kreuzberger Filmkunstbar Fitzcarraldo oder das FahrradKino- Kombinat aus Kiel vor, die mit alternativen Präsentationsformen für Filme experimentieren. Ihr Resümee: „Kinos werden nur dann überleben, wenn sie sich als kulturelle Orte verstehen und als solche gefordert und gefördert werden. Dafür brauchen sie die Loslösung von kommerziellen Auswertungsmechanismen.“
Checkliste für Kinos
Die zweite wichtige Branchenkonferenz, „CinemaVision2030“, versammelte auf Einladung der Verbände AG Kino – Gilde, HDF Kino und Bundesverband kommunale Filmarbeit (BkF) im Juni 20 Experten aus elf Ländern: Schwerpunktthemen waren Kino als Ort und kollektiver Raum, Kino als Tempel für Filme, Menschen im Kino, Marketing und Personalentwicklung. Daran schlossen sich drei Zoom- Konferenzen zur Nachbereitung an, auf denen eine „Agenda für das Kino der Zukunft“ und eine „Checkliste für Kinos“ erarbeitet wurden. Sie sollen Kinos helfen, sich als Kulturort und sozialer Raum zu profilieren. Eine weitere „Entwicklungskonferenz“ wird am Vorabend der Berlinale 2023 stattfinden.
Als ein Beispiel von vielen Anregungen sei das kommunale Kino Kinodvor in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana genannt. Deren Geschäftsführerin Metka Dariš hat gute Erfahrungen damit gemacht, ihr Kino als Erlebnisort über die Filmvorführung hinaus zu präsentieren. Kaum ein Event sei so sehr gefragt wie die regelmäßigen Filmmeetings, bei denen sich das ältere Publikum nach den Vorführungen noch beim Kaffee und mit Moderation über den Film austausche, berichtete das Branchenmagazin Blickpunkt Film. Das sei jedes Mal ein „Riesenansturm“, die Plätze seien rasch vergeben. Bei der Konferenz verdichtete sich offenbar der Eindruck, dass Events helfen können, dem Kino als sinnlichem Erlebnisraum neue Impulse zu geben. Besonders fleißig produziert solche Impulse die 1997 in Texas gegründete US-Kette Alamo Drafthouse Cinema, der nun 36 Arthouse-Kinos angehören. Sie ermuntert ihr Personal, mit den Gästen in Interaktion zu treten, und organisiert gerne Live- Gespräche mit Filmschaffenden, die landesweit übertragen werden. Vor allem aber sorgt sie für Aufsehen erregende Events wie etwa die Open-Air-Vorführung des Klassikers „Der weiße Hai“, bei der die Zuschauenden in Gummibooten auf einem See sitzen und Taucher den speziellen Nervenkitzel erzeugen.
Ein wichtiger Schlüsselfaktor kommt dem Marketing zu. Dazu offerierten AG Kino, HDF Kino und BkF im März einen Weiterbildungslehrgang rund ums lokale digitale Marketing im Kino. Der viermonatige Kurs beruht auf einer Onlineplattform, die der schwedische Kinoverband Biografcentralen entwickelt und erprobt hat. Er besteht aus vier Modulen: Digital Strategy, Site Strategy & SEO (Suchmaschinenoptimierung), Content Marketing und Social Media. Diese werden von vertiefenden Online-Seminaren begleitet. Für die Umsetzung der Seminare zeichnet das Team der Initiative „Zurück ins Kino“ verantwortlich.
Erstes bundesweites Kinofest ein Erfolg
Um das Kino wieder stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, hat sich die Branche schon vor der Pandemie entschlossen, ein Kinofest ins Leben zu rufen. Nach dem Abflauen der Coronapandemie war es am 9. September endlich soweit. Bundesweit ging das erste deutsche Kinofest über die Bühne. Mit ermäßigten Eintrittspreisen von fünf Euro und einem breiten Programmangebot einschließlich etlicher Vorpremieren sollten möglichst viele Menschen ins Kino geholt werden. Der Aufwand hat sich gelohnt: 685 Filmtheater mit 3193 Sälen nahmen teil und konnten 1,1 Millionen Besucher/ innen begrüßen. Damit bescherte das Kinofest den Lichtspielhäusern das bis dahin besucherstärkste Wochenende des Jahres. In Ländern wie Frankreich oder Großbritannien haben sich derartige Kinotage übrigens längst eingebürgert.
Doch wie sollen die ohnehin schon angeschlagenen Filmtheater mit den enormen Kostensteigerungen für Energie fertigwerden? Immerhin hat Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Oktober Hilfe für Kultureinrichtungen vom Bund in Aussicht gestellt, und zwar eine Art „Kulturfonds Energie“. Greifen soll die Hilfe ab 1. Januar, dann rückwirkend vom Oktober an, erklärte Roth. Die Grünen-Politikerin sprach von einer „substanziellen Summe“, erwartet aber im Gegenzug, „dass Kultureinrichtungen sich solidarisch verhalten und alles dafür tun, Energie einzusparen“. Bei den vom Bund geförderten Einrichtungen seien als Ziel 20 Prozent Energieeinsparungen vorgegeben worden. Zur Finanzierung sollen Gelder aus dem Sonderfonds für Kulturveranstaltungen umgewidmet werden, die noch nicht abgerufen wurden. Laut Roth handelt es sich dabei um eine Summe von „mindestens einer Milliarde Euro“. Und der Hessische Landtag plant 2023 ein Förderprogramm zur Deckung von Energiekosten für Kultureinrichtungen in Höhe von 30 Mio. Euro.
Energiekosten ums Dreifache gestiegen
Wie groß der Druck der gestiegenen Energiekosten für die Kinos hierzulande ist, machte die Vorstandsvorsitzende des Verbandes HDF Kino, Christine Berg, in einer Anhörung im Kulturausschuss des Bundestages zur Energiekrise im Kultursektor deutlich. „Wir brauchen Strom ohne Ende“, so Berg. Derzeit werde jeder Kinobesuch für die Kinos zum Verlustgeschäft. „Bei jedem Ticket, das wir verkaufen, haben wir 20 Prozent, die wir noch irgendwo anders herholen müssen, um plus minus null heraus zu kommen.“ Die Energiekosten seien pro Sitzplatz auf das Dreifache gestiegen, in Multiplexen sogar auf das Vierfache. Durch die hohen Energiepreise und andere Faktoren müssen die Kinos nach ihren Angaben zusätzliche Kosten von etwa 300 Millionen Euro stemmen. Handlungsbedarf sieht Berg auf zwei Ebenen. Zum einen gehe es um schnelle Hilfe: „Wir müssen unsere Rechnungen jetzt zahlen und können nicht bis März 2023 warten.“ Zum anderen bestehe weiter Investitionsbedarf, so Berg. „Dazu brauchen wir ein Investitionsprogramm.“
Der Kinosaal darf nicht zu sehr auskühlen
In den hessischen Kinos sind die Energiehilfen noch nicht angekommen. Gunter Deller vom Frankfurter Programmkino Mal Seh‘n berichtet, dass die AG Kino noch mit dem BKM über die Ausgestaltung verhandelt. Zu den geforderten Energieeinsparungen von 20 Prozent meint Deller: „Wir sparen ohnehin schon seit Jahren. Aber das geht nur begrenzt. Das Problem ist: Der Kinosaal hat eine sehr hohe Decke und darf nicht zu sehr auskühlen, weil er sich sonst abends nicht mehr so schnell erwärmen lässt. Wir heizen mit den Heizkörpern, aber auch mit der Lüftungsanlage, die die Luft von außen anwärmt. Wir wollen natürlich, dass unsere Gäste sich im Kinosaal wohlfühlen.“ Gefordert sind auch die Mal Seh‘n-Mitarbeiter: „Im Büro drehen wir keine Heizung auf. Wir sitzen mit Jacke und Schal vor den Rechnern. Da müssen wir durch.“
Kategorie: Hintergrundbericht (GRIP FORUM)
Schlagworte: Kino, Filmförderung, Kulturförderung, Filmwirtschaft, Corona, Filmpolitik
