GRIP 66
20.12.2022
Umbruch und Aufbruch
Fast 75 Jahre lang produzierte der Hessische Rundfunk (hr) seine Fernsehspielfilme selbst. Als letzter ARD-Sender will der hr künftig auf Auftrags- und Koproduktionen setzen. Dies hatte die Initiative Hessen Film schon lange verlangt, um den Standort zu fördern. Hinter dem Kurswechsel steht vor allem eine neue Sparpolitik im Hause.
Von Peter Hartig
Eine kleine Sensation hatte die Programmdirektorin des Hessischen Rundfunks in der GRIP 65 verkündet: Der Sender vergibt künftig Auftragsproduktionen, erklärte Gabriele Holzner im Interview. Wer nun das Sensationelle daran nicht gleich erkennt: Der hr war bislang eine Insel in der ARD. Während die anderen Sender seit den 1990er Jahren Firmen beauftragen, blieb man in Hessen unbeirrt und produzierte seine Fernsehspielfilme fast alle selbst.
Die Initiative Hessen Film rief schon seit Jahren vergeblich nach einer Abkehr von den Eigenproduktionen. Weil der Sender damit die freie Filmszene ausschließe. Nun ist das mit den Auftragsproduktionen zwar auch ein bisschen Mogelei, weil die anderen ARD-Schwestern zwar nicht mehr selber produzieren, aber allesamt Produktionstöchter haben, die mit den freien Firmen um Aufträge konkurrieren. Ein Allheilmittel ist es also nicht, aber trotzdem pulsiert rund um die Standorte meist das reale Filmleben mit Dienstleistern, Facilities und mehr. Davon hätte das Rhein-Main-Gebiet gerne auch ein bisschen mehr.
Doch wie auch immer: Der Hessische Rundfunk vollzieht nicht bloß eine Kehrtwende, sondern einen Umbruch – und weil der Sender nächstes Jahr 75 wird, darf man den sogar historisch nennen. Sowas kündigt man normalerweise groß an, mit Erklärungen und Versprechungen. Aber Holzner hatte nur auf Nachfrage bestätigt, dass man bei fiktionalen Formaten künftig auf Auftrags- und Koproduktionen setze. Und eigentlich sei man schon dabei, wie der jüngste Tatort- Dreh der Frankfurter U5 Filmproduktion zeigt.
Mitten im „Veränderungs- und Sparprozess“
Mehr war vom hr in den folgenden Monaten nicht mehr zu hören oder lesen. Normalerweise sind Sender mitteilungsfreudiger, wenn sie Großes vorhaben. Also die Nachfrage bei der Pressestelle: Was ist der Grund für diesen Kurswechsel? Und gibt es bereits einen Fahrplan? „Wir wollen die Auftragsproduktionen jetzt verstärken, um einerseits flexibler zu werden, um auf aktuelle Markteinflüsse reagieren zu können“, antwortet die Pressestelle und erklärt gleich das Problem: „Mehr Auftragsproduktionen bedeutet aber auch, dass über einen definierten Zeitplan weniger Stellen benötigt und dementsprechend nicht mehr wiederbesetzt werden.“ Keine große Vision für den Standort steht also hinter der Neuerung, sondern erstmal die Not: „Der Hessische Rundfunk befindet sich seit Jahren in einem Veränderungs- und Sparprozess“, hatte Florian Hager, seit einem Jahr Intendant, auf der Hauptversammlung im Juli erklärt. 2020 hatte der Sender 90 Millionen Euro Verlust gemacht, 2019 waren es fast 100 Millionen. Im Haushaltsplan 2023 ist ein Fehlbetrag von 44 Millionen Euro ausgewiesen. Mit diesen Zahlen mag sich erklären, warum der hr auf die Strategie der anderen Sender zurückgreift: Mit Auftragsproduktionen können wir Geld sparen, denn das Risiko liegt bei den Firmen.
Und das liebe Personal?
Mit dem Veränderungsprozess scheint es auch nicht so rund zu laufen, wie erst neulich die Personalie um Nina Pater zeigte, frühere Managerin der „Hessen-Unit“. Nach Presseberichten wurde sie erst „abserviert“, dann zur Managerin für medienübergreifenden Journalismus „weggelobt“. Denn in einem Offenen Brief an die Geschäftsleitung hatten 107 Mitarbeiter*innen gegen die Abberufung Paters protestiert – „ausgerechnet die Führungskraft, die sehr stark für die crossmediale Idee der Hessen-Unit gebrannt und den Transformationsprozess hin zum Digitalen mitgetragen hat“. Kritisiert wurde „das gesamte Führungsteam“ im Hause. Von „Schwächen“ und einer „kaum sichtbaren Veränderung von Prozessen und Workflows“ war gar die Rede.
Schwere Vorwürfe, öffentlich vorgetragen – die Stimmung scheint zurzeit nicht gut beim Sender. Verständlich also, wenn die Antworten des hr zum Thema Auftragsproduktion verhalten ausfallen. Denn betroffen sind auch die Mitarbeiter*innen im Sender: „Konkret geht es dabei um die Produktionsbetriebe, darunter beispielsweise Werkstätten, die hauptsächlich für das Fernsehspiel arbeiten.“ Den Plänen nach sollten die sich aber keine Sorgen machen: Nicht nur mit Geld, sondern auch mit „Beistellungen“ eigenen Personals will der hr in seine Koproduktionen einsteigen. Weshalb der Kurswechsel ja auch „ein Prozess über mehrere Jahre“ sein werde, hatte Holzner im Interview erklärt.
Heimische Branche kann gut mithalten
Und letztlich geht es dabei auch nicht bloß um Geld und Sparen: „Wir müssen flexibler werden und auch schneller, was die Umsetzung von Produktionen angeht. Aktuell gibt es zum Beispiel einen großen Bedarf nach seriellen Formaten in der ARD-Mediathek. In zwei Jahren gibt es dann vielleicht einen neuen Trend. Und genau darauf wollen wir besser reagieren können“, erklärt die hr-Pressestelle. „Wir haben immer gesagt, dass der Hessische Rundfunk als kleinere ARD-Anstalt nicht über das Budget verfügt, Hessen zum ganz großen Produktionsstandort zu machen. Aber wir wollen so viel Produktionen wie möglich in unserem Bundesland beauftragen, aber eben auch verstärkt in ARD-Kooperationen gehen.“
Im Mai hatte der Sender mit der heimischen Filmbranche am Runden Tisch gesprochen. Ist dies nun der große Schritt, wie ihn sich die Initiative Hessen Film vorgestellt hatte? Im Prinzip ja, meint der Produzent Jakob Zapf, Sprecher der Initiative und Mitgründer der Neopol Film in Frankfurt. Freilich sei es noch ein bisschen früh, das zu beurteilen. „Aber es ist ein wichtiges Signal, dass der hr sich um den Standort bemüht.“
Dass die Filmszene im Land sich nun bald vor Aufträgen nicht mehr retten kann, fürchtet er nicht. Denn die Änderungen betreffen erstmal nur den Bereich der Fiktion. Und da ist das Produktionsvolumen des hr ähnlich überschaubar wie die Filmszene vor Ort – und Aufträge werden bundesweit vergeben. Muss aber nicht, findet Zapf, denn im Wettbewerb könnte die heimische Branche gut mithalten. Und die sei größer als vermutet: „Alles junge Firmen. Es wird ja in Hessen produziert – nur mit zu wenig Geld.“
Kategorie: Bericht/Meldung (GRIP INFO + Filmland Hessen-Beiträge)
Schlagworte: Filmförderung, TV/Rundfunk, Filmproduktion, Nachwuchs, Filmwirtschaft
