GRIP 64
06.01.2022
Talent, Entschlossenheit und ein langer Atem
Annette Ernst kann auf eine zwanzigjährige Karriere als Film- und Fernsehregisseurin zurückblicken. Ihr Ausnahmetalent für Komödien bewies sie bereits in ihrem ersten Film KISS AND RUN. Nun ist nach fast 20 Jahren ein ganz anderer Film fertig geworden: Die Kino-Langzeitdokumentation EINMAL ALLES ANDERS. Der Film wird von jip film & verleih im Frühjahr 2022 in die Kinos gebracht.
Von Claudia Prinz
„Maggie Peren verdanke ich letztlich den Einstieg in meinen Job. Wenn sie nicht damals ihr schon verkauftes Drehbuch wieder zurückerkämpft und an mich weitergereicht hätte, wer weiß, wie alles gelaufen wäre“, meint Annette Ernst bescheiden. Nach diesem Debüt, wofür sie gleich mit dem Grimme-Preis gekürt wurde, war alles leichter. Die Türen öffneten sich, eine Agentur nahm sie unter Vertrag und ihre Karriere startete.
Von da an besetzte sie ein Genre, das in Deutschland selten ist: die anspruchsvolle Komödie. Sie übernimmt zahlreiche Regiearbeiten für diverse TV-Sender. Ihr Talent für diese Art von Film war ihr gar nicht von Anfang an bewusst. Während ihres Studiums der Germanistik, Romanistik und der Theater-, Film- und Medienwissenschaften in Frankfurt und Paris (1986–1992) arbeitete sie zunächst als Journalistin und Fernsehmoderatorin. Ihre Auftritte als „Wetterfee“ beim Hessischen Rundfunk ernährten sie und trugen sie durch das Studium, aber eigentlich wollte sie nie vor der Kamera stehen, sondern immer dahinter. Der Studienaufenthalt in Paris brachte sie diesem Ziel näher. Es folgte von 1996 bis 1997 ein Stipendium für die Drehbuchwerkstatt der Hochschule für Fernsehen und Film in München, wo sie eine weitere Seite des Handwerks lernte.
Zwei Mütter und drei Söhne
Nun hat sie einen Film abgeschlossen, an dem sie seit 2009 arbeitet. Da begann sie rein aus Neugier eine Regenbogenfamilie, bestehend aus zwei Müttern und drei Söhnen, mit der Kamera zu beobachten: jedes Jahr vier, fünf Tage und zusätzlich drei größere Zyklen mit mehreren Drehtagen. „Ich wollte sehen, wie sie durch die Wellen einer Gesellschaft kommen, die für sie keine Vorbilder hat. Das ist zwar kein großes Ding mehr, aber es gibt auch noch nicht viele, die in solch einer Familie erwachsen geworden sind, und zwar in einer Familie, die so gewollt ist.“ Denn die beiden Frauen brachten ihre Kinder nicht mit in die Beziehung, sondern bekamen sie während der gemeinsamen Jahre.
Das Thema zu EINMAL ALLES ANDERS lag ihr schon lange am Herzen. Bereits in ihrem ersten Drehbuch (1996) für eine Komödie ging es um zwei lesbische Wasserschutzpolizistinnen, die sich unbedingt ein Kind wünschen. Das Buch wurde zwar vom Bayerischen Rundfunk optiert, aber nie umgesetzt. Als sich abzeichnete, dass der Film nicht realisiert werden würde, entschloss sie sich, einen Dokumentarfilm über dieses Thema zu drehen und fand nach ausführlicher Suche zwei lesbische Frauen, die bereit waren, ihr Leben abfilmen zu lassen. Als sie mit der Dokumentation begann, war der jüngste Sohn noch nicht geboren. Inzwischen ist er zwölf Jahre alt und kann wie seine beiden älteren Brüder selbst über sein Leben Auskunft geben. Dazu bemerkt Annette Ernst: „In diesem Film geht es nicht nur um eine Regenbogenfamilie, sondern, ohne dass ich etwas dazu getan hätte, wegen der langen Entwicklungszeit auch um Identität, das große Thema der letzten Jahre.“

Schwierige Produktionsbedingungen
Die Finanzierung des Films mit der eigenen Frankfurter Filmproduktion Stoked Film sei ein Eiertanz gewesen; es brauche einen langen Atem, denn solch ein Film fällt durch alle Regularien. Die hessische Filmförderung hat das Langzeitprojekt immer wieder mit kleinen Fördersummen unterstützt, ebenfalls die Endfertigung, wofür auch Mittel vom DFFF geflossen sind: „Es ist ein kleiner hessischer Film geworden, der viele überraschende Wendungen nimmt. Denn da ist einiges passiert, das hätte ich mir für keinen Spielfilm ausdenken können. Und mit dem Archivmaterial belege ich, wie sich die rechtliche Situation für gleichgeschlechtliche Paare in diesen zwölf Jahren verändert hat.“ Am Ende sind aus rund 80 Stunden Material mit den gleichen Personen zwei unterschiedliche Filme entstanden, eine 56-minütige Fassung für hr/ARTE mit dem Titel MEINE ALLES AUSSER GEWÖHNLICHE FAMILIE (2020) und der Kinofilm EINMAL ALLES ANDERS.*
Wer so lange fürs Fernsehen gearbeitet hat, findet es besonders spannend, einmal eine Produktion ohne Einfluss einer Redaktion oder eines Produzenten zu realisieren. Auch in der deutsch-französischen Koproduktion DEUTSCH-LES-LANDES traf Annette Ernst auf eher ungewöhnliche Arbeitsbedingungen. Den Auftrag für diese Serie erhielt sie unter anderem, weil sie in Paris studiert und dort gelebt hatte: „Da waren die Arbeitsbedingungen ähnlich frei wie bei meinem unabhängig produzierten Langzeitfilm. Es war wie Gehen über frischen Schnee, weil es sowohl für Magenta TV als auch für Amazon France quasi Neuland war. Da war sehr viel Vertrauen in meine künstlerische Arbeit. Der Cast war paritätisch mit Deutschen und Franzosen besetzt, in den Hauptrollen mit Christoph Maria Herbst, Marie-Anne Chazel und Sylvie Testud.
Es war eine totale Herausforderung, die komplett unterschiedlichen Arbeitsweisen der Schauspieler*innen miteinander zu kombinieren, die die Sprache des anderen auch gar nicht sprechen konnten. „Ein echtes Versuchslabor.“ Neben KISS AND RUN bezeichnet sie diese Serie als ihre schönste Arbeit, nicht zuletzt weil sie in Paris auch ihre Cutterin Anja Lüdcke kennenlernte, mit der sie seither zusammenarbeitet, wann immer es geht.
Pro Quote Regie
Ein anderer Meilenstein auf Annette Ernsts Weg ist der Kampf um gleiche Chancen in ihrer Arbeitswelt. Als 2013 eine Ausgabe der Black Box von Ellen Wietstock mit den Förderergebnissen aus NRW herauskam, die dokumentierten, dass wieder einmal über sechs Millionen Euro der Fördermittel an Projekte vergeben worden waren, bei denen nur Männer Regie führten, war sie über dieses Ergebnis so aufgebracht, dass sie zusammen mit ihrer Freundin und Regiekollegin Kathrin Feistl beschloss, etwas dagegen zu unternehmen. Sie gewannen Mitstreiterinnen und gründeten 2014 den Verein Pro Quote Regie, um für eine Veränderung in der Medienlandschaft zu kämpfen. Anfangs war das schwer, denn es gab noch keine verlässlichen Zahlen, sie mussten die Statistiken selbst recherchieren. Dann aber setzten sie eine ganze Welle in Gang.
Die Entschlossenheit hat sich gelohnt.
Inzwischen besteht die Gruppe aus über 400 Regisseurinnen. Aus dem Verein PQR wurde in Kombination mit anderen Gewerken Pro Quote Film. Erste Erfolge für die Regisseurinnen sind zu verzeichnen: ARD und Degeto haben eine 20-Prozent Zielvorgabe für Regisseur*innen beschlossen, welche die Degeto 2021 sogar auf 25 Prozent steigern will. Auf den Vorschlagslisten für Regie seitens der Produktionsfirmen müssen zu gleichen Teilen Regisseurinnen und Regisseure stehen. Und bei der Novellierung des Filmförderungsgesetzes wurde ein allgemeiner Paragraph zur Geschlechtergerechtigkeit und die paritätische Besetzung der Gremien aufgenommen. Es ist erst einmal ein Etappensieg, aber Annette Ernsts Enthusiasmus ist ansteckend: „Ich brenne noch heute genauso wie vor 25 Jahren dafür, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen. Mit unserem Medium können wir das, wir können die Aufmerksamkeit auf Missstände lenken und wie in meinem neuen Film eine gesellschaftlich relevante Angelegenheit auf den Prüfstein legen. Und trotzdem soll es unterhalten und im Kopf etwas in Bewegung setzen. Dafür liebe ich diesen Beruf immer noch sehr.“
Filmografie (Auswahl)
EINMAL ALLES ANDERS* Kino-Dokumentarfilm, D 2021, Regie & Buch
DAHEIM IN DEN BERGEN – VÄTER Fünfter Teil der Fernsehreihe, D 2020, Regie
DEUTSCH-LES-LANDES Serie Magenta TV, Amazon Studios, D/F 2018, Regie & Buch Annette Ernst (Co-Autor: Denis Dercourt)
JOSEPHINE KLICK – ALLEIN UNTER COPS Fernsehserie für Sat1, D 2014, Regie: Annette Ernst (2 Folgen)
DER MANN, DER ALLES KANN TV-Spielfilm, D 2012, Regie
ES KOMMT NOCH DICKER Fernsehserie, D 2012, Regie (3 Folgen)
FÜR MEINE KINDER TU‘ ICH ALLES TV-Spielfilm, D 2009, Regie (Autor: Rolf Silber)
ZWEI WOCHEN CHEF TV-Spielfilm, D 2007, Regie
GEILE ZEITEN TV-Spielfilm, D 2006, Regie
BETTGEFLÜSTER & BABYGLÜCK TV-Spielfilm, D 2005, Regie
MEIN ERSTER FREUND, MUTTER UND ICH TV-Spielfilm, D 2003, Regie
KISS AND RUN Spielfilm, D 2001, Regie & Buch (Adolf-Grimme-Preis 2005)
* Werkstattgespräch im Seminarprogramm Frühjahr/Sommer 2022
Kategorie: Personenportrait (GRIP FACE)
Schlagworte: Filmemacher*in, Dokumentarfilm, Diversität, Spielfilm, TV/Rundfunk, Filmförderung
