GRIP 60,5
01.11.2019
Doyenne der feministischen Filmarbeit
Über die Frankfurter Filmwissenschaftlerin und Kuratorin Karola Gramann
Von Claudia Prinz
Die Begeisterung für den Film war Karola Gramann nicht in die Wiege gelegt: „Ich bin nicht mit der Filmrolle im Kinderwagen aufgewachsen, sondern im Gegenteil. Bei uns war Kino nicht vorgesehen, weil das als Unterhaltung galt, und dafür war kein Geld da.“ So kam sie spät dazu, sich mit Film zu beschäftigen, und hat erst während des Studiums ein Interesse dafür entwickelt.
Aufgewachsen in der nordbayerischen Mittelstadt Würzburg, brach sie das Gymnasium ab und machte eine Buchhandelslehre. Mit dem Kaufmannsgehilfenbrief in der Tasche hatte sie das große Glück, dass ihr der Insel/Suhrkamp Verlag ein Volontariat anbot, so dass sie aus dem Buchhandel ins Verlagswesen überwechseln konnte. Dort erhielt sie eine solide kaufmännische Ausbildung, lernte Buchherstellung und ging dann zum S. Fischer Verlag.
Als sie herausfand, dass es in Hessen den sogenannten dritten Bildungsweg – auch Begabtenabitur genannt - gab, machte sie das Abitur nach und begann ein Studium der Amerikanistik, Anglistik und Soziologie. Sie erinnert sich: „Es gab damals unter der Leitung von Dieter Reifarth das Kommunale Kino mit phantastischen Veranstaltungen, darunter ein Wochenendseminar zur Avantgarde im Sowjetischen Stummfilm, das Ulrich Gregor hielt. Das hat mir die Augen geöffnet und ich dachte, so will ich weitermachen."
Sie hat schon bald dann bei Alfred Lorenzer und vor allem bei Christine Noll Brinckmann studiert, die bei den Amerikanisten im Rahmen der Cultural Studies auch Film unterrichtete. Theater und Film und Fernsehwissenschaften konnte man nur im Nebenfach belegen, allerdings bei so prominenten Leuten wie Heide Schlüpmann und Alexander Kluge.
Karola Gramann konzentrierte sich weiter auf Film und war regelmäßig in Großbritannien, wo sie an den Summer Schools des British Film Institute teilnahm. Dort kam sie auch zum ersten Mal mit der feministischen Filmarbeit in Berührung, der sie bis heute verbunden ist.
Nach einem Jahr Studienaufenthalt in London zurück an der Goethe Universität, wechselte sie das Hauptfach und belegte nunmehr Neuere Deutsche Literatur. Während dieser Zeit arbeitete sie bereits in dem Bereich, der später ihr Beruf werden sollte. Für das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik schrieb sie Filmkritiken und betreute die Redaktion der Kurzfilmliste, arbeitete in Fachjurys bei nationalen und internationalen Filmfestivals mit und war Mitherausgeberin der Zeitschrift „Frauen und Film“.
1983 machte sie ihren Magister in Literaturwissenschaften mit dem Thema „Fritz Langs Film "Metropolis" als Produkt der Kultur der Neuen Sachlichkeit“ und wollte promovieren, als sie 1984 der Ruf als Leiterin der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen erreichte. Das Festival Oberhausen war ihr lange vertraut. Sie hatte es seit Mitte der 70er Jahre regelmäßig besucht, war dort seit 1982 Mitglied der Festivalkommission und hatte die Produktionen aus Großbritannien, der Schweiz, den USA und der DDR ausgewählt.
Die Kurzfilmtage waren bekannt für ihre regen Diskussionen, in die sich Karola Gramann gerne einmischte. Legendär war das Festival durch das am 28. Februar 1962 verkündete Oberhausener Manifest, bei dem 26 bundesdeutsche Filmschaffende einen Meilenstein in der Entwicklung des deutschen Kinos schufen – nie zuvor, nie danach wurde mit einer solchen Vehemenz ein Bruch mit den bestehenden Produktionsverhältnissen verlangt und auch herbeigeführt.
Fünf Jahre leitete Gramann die Kurzfilmtage. “Es war eine unglaublich interessante Zeit und ich bin noch heute sehr einverstanden mit dem, was die Festivalkommission und ich inhaltlich und organisatorisch erreicht haben. Ich habe den Filmmarkt und die Videosektion eingeführt und dem Experimentalfilm zu angemessener Geltung verholfen. Aber es war auch eine sehr schwierige Zeit und ich bin schließlich im großen Dissens mit der lokalen Politik und der Verwaltung gegangen“.
Es folgten Jahre als Lehrbeauftragte für Experimentalfilm an der Braunschweiger Hochschule für Bildende Künste und als Referentin für Film und Video im Frauenkulturhaus Frankfurt. Außerdem nahm sie ihre Arbeit als freie Kuratorin und Filmpublizistin wieder auf und knüpfte als Co-Leiterin der Frankfurter Filmschau zu Beginn der 90er Jahre an ihre Oberhausener Erfahrungen an.
Von 1995 an betreute sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin zehn Jahre lang den Praktikumsbereich am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Frankfurter Goethe Universität: „Vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Menschen hat es mir viel Spaß gemacht, die Studierenden in Praktika zu vermitteln, die ihren persönlichen Fähigkeiten entsprachen und zu erleben, dass sie gelegentlich dort auch blieben.“
Daneben hielt sie - oft gemeinsam mit Heide Schlüpmann - Seminare ab, bei denen neue Projekte entwickelt wurden. Heraus kam beispielsweise ein Open Air Festival im noch nicht renovierten Casino des Campus Westend mit Super 8-Filmen aus den 80er Jahren von Gruppen wie „Anarchistische Gummizelle“, „Die tödliche Doris“ oder „Schmelzdahin“.
Bereits 1989 war nicht nur Karola Gramann aufgefallen, dass die feministische Filmarbeit der 70er Jahre und die Filmarbeit von Frauen generell vom Verschwinden bedroht waren. Eine Einrichtung, die sich mit diesem kulturellen Erbe befasst, war dringend notwendig. Aber es war ein langer Prozess, bis schließlich die Kinothek Asta Nielsen 1999 gegründet wurde. Lokalpolitisch günstig war dabei, dass nach der Insolvenz des Frauenkulturhauses Mittel für eine erste Anschubfinanzierung frei geworden waren.
Für Gramann war es gut, dass sie die Kinotheksarbeit mit ihrer Aufgabe an der Universität verbinden konnte, teils im Kuratieren von Filmprogrammen zu Seminaren, teils indem die Kinothek Studierenden praktische Kenntnisse in kuratorischer und archivarischer Arbeit vermittelten konnte.
Bis 2007 hatte sich die Kinothek in den Räumen der Universität befunden, bevor sie an ihren heutigen Standort in die Stiftstraße zog. Inzwischen hat sich das Haus mit seinen großen Retrospektiven, besonders im Bereich des frühen Kinos, zu einer Institution mit internationalem Renommee entwickelt.
Aber Karola Gramann hat bereits ein neues Projekt aus der Taufe gehoben. Im vorigen Jahr startete sie zusammen mit Heide Schlüpmann und Gaby Babić das Festival Remake. Frankfurter Frauen Film Tage.
Karola Gramann wurde 2015 mit dem Tony-Sender-Preis der Stadt Frankfurt geehrt. Außerdem erhielt sie 2017 zusammen mit Heide Schlüpmann den Kulturpreis der Binding–Kulturstiftung für die Kinothek Asta Nielsen und 2018, ebenfalls zusammen mit Heide Schlüpmann, die Auszeichnung „Menschen des Respekts“ der Hessischen Landesregierung.
2020 wird sie die Leitung der Kinothek an Gabi Babić übergeben. „Ich habe das dann 21 Jahre lang gemacht“, sagt sie im Rückblick. "Ich werde der Kinothek immer verbunden bleiben, aber es ist an der Zeit, dass ein Generationswechsel stattfindet und auch andere Perspektiven und Sichtweisen zum Zug kommen.“
Filmreihen (Auswahl)
Independent Cinema Programme
Auswahl Britische Filmszene, für das Kölner Filmhaus
zum 25-jährigen Bestehens des British Council, 1984
Die Frau mit der Kamera
13 Filme von Regisseurinnen von Alice Guy bis in die 1960er Jahre, Stadtkino Basel 1985
Momente, Aufbruch und Erinnerung,
Kurzfilme BRD 1946 – 1986 für das Goethe Institut 1986
Experimentalfilme aus Osteuropa,
Beitrag zum Int. Experimental Film Congress, Toronto 1989
Lost daughters who don't want to go home again
Experimentalfilme von Regisseurinnen aus der BRD, Schweiz und Österreich - in Zusammenarbeit mit den Goethe Instituten Sydney und Melbourne, der Universität Melbourne sowie dem Australian Filminstitute, 1990
The Dream Machine, a certain sensibility
Vierteiliges Programm mit britischen Filmen der 1980er Jahre VIPER, Luzern 1991
hr-Kurzfilmprogramm junger hessischer Filmschaffender
Auswahl zusammen mit Urs Breitenstein im Auftrag des Frankfurter Filmhauses 1992
Retrospektive Derek Jarman
Filmschau und Ausstellung für das Deutsche Filmmuseum, Frankfurt 1994
Cherchez la Femme in 100 Jahren Filmgeschichte,
mehrteiliges Programm für die Frauenfilmtage in der Schweiz 1995
Blicke zurück nach vorn,
Programm früher Stummfilme und neuer Experimentalfilme im Rahmen der Reihe Experimentelle Filmgestaltung der HDK Berlin, 1995
Kategorie: Personenportrait (GRIP FACE)
Schlagworte: Diversität, Filmtheorie/Filmwissenschaft, Filmkultur, Auszeichnung, Festival
