GRIP 59
01.11.2018
„Ich wollte sie an meiner Seite haben“
Der Frankfurter Regisseur Claus Withopf und seine gefeierte Kinodokumentation „Anne Clark – I'll walk out into tomorrow"
Von Alexander Jürgs
Es gibt diese Independent-Filme, die sich vom Geheimtipp zum Erfolg wandeln, von denen viel gesprochen wird, bei denen die Mund-zu-Mund-Propaganda noch funktioniert, diese Filme, die die Zuschauer berühren, weil sie so besonders sind. „Anne Clark – I’ll walk out into tomorrow“, der im Januar 2018 in die Kinos kam, ist solch ein Film. Claus Withopf, Filmemacher aus Frankfurt, hat ihn gedreht. Mehr als zehn Jahre hat er an dem Dokumentarfilm gearbeitet. Es war sein Kinodebüt. „Es gab viele Momente, in denen ich gedacht habe, dass es niemals klappen wird, diesen Film ins Kino zu bringen“, hat er anlässlich des Filmstarts gesagt.
Zwölf Jahre war Withopf alt, als er 1985 zum ersten Mal ein Stück der britischen Musikerin Anne Clark hörte. In der Fernsehsendung Formel Eins lief das Video von „Our Darkness“, bis heute einer der bekanntesten Songs von Anne Clark. Withopf war fasziniert von diesem Stück, von den harten Synthesizer-Beats, von der Düsternis, von der herausgesungenen Wut. Und er war begeistert von dieser Figur, die die Sängerin verkörperte, von ihrem rebellischen Gestus, von den wild abstehenden Haaren, dem provozierenden Outfit.
Es waren die Thatcher-Jahre; Anne Clark und andere Musiker der New-Wave-Bewegung sangen gegen den herrschenden Konservativismus im Königreich an. Withopf vertiefte sich in die Musik, mit Hilfe eines Wörterbuchs übersetzte er sich die Texte. „Ich habe versucht zu ergründen, um was es in diesen Songs geht“, erzählt er. Bald besuchte er ein erstes Konzert der Sängerin, dann das zweite, dann das dritte.
Withopf blieb auch Fan von Anne Clark, als er mit seinem Studium an der Offenbacher Hochschule für Gestaltung (HfG) begann. Dort besuchte er die Filmklasse, drehte erste Filme, den Experimentalfilm „At night there is always someone watching“, das schräge Roadmovie „Standspur“ und den Kurzspielfim „Neon“, der mit Erfolg auf einigen Festivals lief. „Neon" erzählt die Geschichte eines Schlachthofarbeiters, der sich nachts in die schöne Sängerin Nora verwandelt.
Nach dem Abschluss an der Offenbacher Akademie brachte ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) Withopf nach New York. Dort verlegte der Regisseur seinen Fokus mehr und mehr auf den Dokumentarfilm. Zurück in Deutschland suchte er nach einem Thema für die erste lange Dokumentation, die er drehen wollte – und landete bei der Sängerin, die er schon lange bewunderte. „Der Film sollte von etwas handeln, das mir nahe geht“, war Withopf wichtig. Und: „Es war von Anfang an mein großer Traum, dass dieser Film im Kino läuft.“
Als sein Plan stand, eine Reportage über Anne Clark zu drehen, schrieb Withopf seine Ideen auf, brannte eine DVD mit seinen bisherigen Kurzfilmen und fuhr nach Brüssel, wo die Sängerin ein Konzert gab. Er wusste, dass Anne Clark sich normalerweise nach den Auftritten unters Publikum mischt und mit ihren Fans redet, doch ausgerechnet diesmal ließ sie sich nicht blicken. Er bekniete ihren Tourmanager, konnte doch kurz mit der Künstlerin sprechen, ihr sein Paket übergeben. „Sie war schon damals begeistert von der Idee“, erinnert er sich. „Ich glaube, sie war geschmeichelt.“
Dann beginnt das Warten. Doch etwa drei Monate später meldete Clark sich bei ihm. Sie würde in Leipzig Stücke für ein neues Album aufnehmen, er könne vorbeikommen und sie dabei filmen. Withopf reiste mit kleinem Team an. „Wie die Fliege an der Wand“ habe er sich verhalten, unauffällig, ohne großes Equipment gefilmt. Bald begleitete er die Künstlerin auch auf ihren Tourneen. „Wir haben schnell dazugehört“, sagt er. Und dass es ihm wichtig war, den Film „mit ihr gemeinsam“ zu machen. „Ich wollte sie an meiner Seite haben.“
Mit 40 Kopien ist „Anne Clark – I’ll walk out into tomorrow“ gestartet – für einen Independent-Film eine beachtliche Anzahl. Und er hat sein Publikum erreicht. Etwa 22.000 Besucher haben die Vorstellungen in deutschen Kinos besucht, außerdem lief er in Österreich und der Schweiz im Kino. Im September ist er als DVD/Blu-ray und als Online-Stream erschienen.
Withopfs Film ist keine typische Musikdokumentation, keine schwärmerische Huldigung. Der Film lebt davon, dass Clark darin ehrlich über ihre Probleme spricht, über Streitigkeiten mit ihrer Plattenfirma, über Momente der Perspektivlosigkeit, über das problematische Verhältnis zur Mutter, die Gewalt in der Familie. Es gibt eine Szene, in der sie sich fragt, ob sie das, was sie Withopf erzählt, wirklich alles der Öffentlichkeit preisgeben soll. Der Regisseur hat ihr früh eine Rohfassung seiner Dokumentation gezeigt – Clark wollte nicht, dass er etwas ändert.
Dass es mehr als zehn Jahre gedauert hat, bis der Film fertig wurde, hat auch damit zu tun, dass es schwierig war, ihn zu finanzieren. Withopf hat sein Projekt vielen Fernsehsendern präsentiert. Häufig zeigten sie auch Interesse, sprangen dann aber doch wieder ab. Schließlich sagte die Hessische Filmförderung (die heute als HessenFilm und Medien firmiert) zu, ihn zu unterstützen. Weitere Sponsoren kamen dazu, Withopf konnte sich auch aufwendigere Drehs leisten. Und er besuchte mit der Künstlerin die Orte im Londoner Stadtteil Croydon, wo sie aufgewachsen ist. Heute sagt er, dass es gut war, dass sich das Projekt so lange hingezogen hat: „So ist Vertrautheit, ist Vertrauen entstanden.“ Sein Verhältnis zu der Sängerin bezeichnet er als Freundschaft. Anne Clark war auch bei den Filmvorführungen häufig dabei, gemeinsam mit Withopf tourte sie durchs Land, um für den Film zu werben.
Sein Geld verdient der Filmemacher als Dozent an der Hochschule, an der er selbst auch studiert hat. Claus Withopf leitet seit zehn Jahren als Lehrkraft für besondere Aufgaben im Fachbereich Kunst das VideoLab der HfG. Er gibt dort Kurse, setzt Filmprojekte mit den Studierenden im Bereich Spielfilm und Dokumentarfilm um und produziert sie an der Hochschule. Oft sind das auch Kooperationsprojekte mit externen Partnern. Filme sind zum Beispiel schon mit dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, dem Historischen Museum in Frankfurt und dem mit der Goethe-Universität assoziierten Fritz Bauer Institut entstanden. „Für mich ist diese Kombination aus freier Arbeit und Lehre ideal“, sagt Withopf. Das einzige Problem: Durch die regelmäßige Tätigkeit an der Hochschule fehlt oft die Zeit für eigene Projekte. Zwei neue Filme sind trotzdem bereits in Planung. Withopf arbeitet an einem weiteren Porträt einer Künstlerin genauso wie an der Entwicklung eines Kinospielfilms. Demnächst wird er auch wieder nach Großbritannien reisen. Im November kommt seine Dokumentation in die britischen Kinos. Im Londoner Barbican Cinema wird die Premiere gefeiert. Anne Clark ist auch wieder dabei.
Filmografie (Auswahl):
2017 ANNE CLARK – I‘LL WALK OUT INTO TOMORROW
Deutschland, Dokumentarfilm, DCP, Farbe, 81 min.
Drehbuch, Regie, Kamera, Schnitt und Co-Produzent
2009 - ANNE CLARK LIVE
Deutschland, Konzertfilm, HD, Farbe, 116 min.
Regie und Executive Producer
2006 - DINER NYC
USA/Deutschland, Kurzspielfilm, 35mm, Farbe, 5 min.
Drehbuch, Regie, Schnitt und Produktion
2004 - 10:15 SATURDAY NIGHT
USA, Kurzspielfilm, HD, Farbe, 4 min.
Drehbuch, Regie, Kamera, Schnitt und Produktion
2003 - GERMAN-AMERICAN TRILOGY
USA, Kurzdokumentarfilm, HD, Farbe, 5 min.
Drehbuch, Regie, Kamera, Schnitt und Produktion
2003 - SUBWAY SONG
USA, Musikvideo, HD, Farbe, 3 min.
Drehbuch, Regie, Schnitt und Produktion
2003 - CONFESSION
USA, Kurzspielfilm, 16mm, Farbe, 4 min.
Drehbuch
2002 - NEON
Deutschland, Kurzspielfilm, 35mm, Farbe, 17 min.
Drehbuch, Regie, Kamera und Produktion
Auszeichnung: Silver Plaque - Chicago International Film Festivals und Besondere Jury-Erwähnung - Festival de Cine Internacional de Barcelona
1998 - STANDSPUR
Deutschland, Kurzspielfilm, 16mm, schwarz-weiß, 10 min.
Drehbuch, Regie, Kamera, Schnitt und Produktion
1997/98 - AT NIGHT THERE IS ALWAYS SOMEONE WATCHING
Deutschland , Experimentalfilm, 16mm, schwarz-weiß, 7 min.
Drehbuch, Regie, Kamera, Schnitt, Musikalische Bearbeitung und Produktion
Kategorie: Personenportrait (GRIP FACE)
Schlagworte: Filmemacher*in, Dokumentarfilm, Experimentalfilm, Ausbildung/Weiterbildung/Studium, Spielfilm