GRIP 57
01.11.2017
Wofür wir den Dokumentafilm brauchen
Die lange Geschichte des Dokumentarfilms und seine Einzigartigkeit bis heute
Von Reinhard Kleber
Je weiter uns Sciencefiction-Filme in ferne Galaxien entführen, je exotischer die Erlebniswelten in Fantasyfilmen erscheinen, je abgedrehter die Story Lines in formelhaften Horrorfilmen werden, umso größer wird bei vielen Filmfreunden das Bedürfnis nach Wirklichkeit, Echtheit, Wahrheit. All das kann ein guter Dokumentarfilm bieten. Und er kann uns in Gegenden und Situationen mitnehmen, in die wir normalerweise nie kommen oder uns vorwagten. Etwa zu unbekannten Unterwasserwesen in der Meeresdokumentation "Deep Blue" (2004) oder zu Extremkletterern in patagonischen Steilwänden wie in "Cerro Torre" (2014).
Auch wenn manche Skeptiker das Verschwinden des Dokumentarfilms aus dem Kino und seine völlige Abwanderung ins Fernsehen schon vorhersagen, in deutschen Filmtheatern hält er sich hartnäckig, vor allem dank eines zwar kleinen, aber treuen Publikums. Zwischen 2011 und 2016 haben an den deutschen Kinokassen jeweils zwischen 1,2 und 2,3 Millionen Menschen ein Ticket für einen Dokfilm erworben, wie die Filmförderungsanstalt im Juni in ihrer ersten Langzeitstudie zum Dokumentarfilmbesuch ermittelt hat. Die entsprechende Besucherreichweite bewegt sich zwischen ein und zwei Prozent. Und deutsche Produktionen sind dabei besonders gefragt: In den vergangenen fünf Jahren erzielten sie einen Marktanteil von gut 50 Prozent. Für Pessimismus ist also kein empirischer Grund erkennbar.
Schließlich begleitet der Dokumentarfilm das Kino ja auch schon von Anfang an: Als die Brüder Lumière 1895 in "Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof von La Ciotat" eine Zugeinfahrt mit der Kamera festhielten, begründeten sie zugleich die älteste Filmgattung. Doch was versteht man eigentlich unter einem Dokumentarfilm? Der Autor, Regisseur und Produzent Hans Andreas Guttner definiert ihn als einen Film, "der Menschen, Dinge, Landschaften in der ihnen eigenen Realität belässt". Dagegen erfindet der Spielfilm sich seine Realität.
Künstlerisch relevante Dokumentarfilme begnügen sich nicht damit, Vorgänge der Realität bloß abzubilden. Nötig sind vielmehr eine ergebnisoffene Beobachtung und eine innere Haltung zum Gegenstand. Der frühere Geschäftsführer der Filmstiftung NRW, Michael Schmid-Ospach, formulierte 2008 einmal: "Dokumentarisch zu arbeiten bedeutet ja nicht, einfach nur die Kamera drauf zu halten. Ein guter Dokumentarfilm braucht ein Thema, eine Struktur und eine Haltung. Das muss und kann man lernen."
In seiner langen Geschichte hat der Dokumentarfilm viele Spielarten hervorgebracht, vom Natur-, Kultur- und Reisefilm über den Essayfilm bis zum Propagandafilm. Bereits in der ersten drei Jahrzehnten haben sich drei grundlegende Konzeptionen von Dokumentarfilmen herausgebildet: informativer, pädagogischer und subjektiver Film.
Vor allem die 1920er und 1930er Jahre gelten als Blütezeit des Dokumentarfilms, damals entstanden stilbildende Klassiker, deren Ansätze bis heute nachwirken. 1922 realisierte Robert Flaherty mit "Nanook of the North", in dem er über zwei Jahre das Leben eines Eskimos begleitete, den ersten abendfüllenden Dokumentarfilm. 1927 realisierte Walter Ruttmann mit "Berlin – Sinfonie einer Großstadt" ein Werk, das mit seiner rhythmischen Montage neue ästhetische Maßstäbe setzte. 1929 begründete John Grierson mit "Drifters" über die Fahrt eines Heringsfischerboots eine aufklärerische Dokumentaristenbewegung, während Dziga Vertov in "Der Mann mit der Kamera" im gleichen Jahr auf artifizielle Weise das Medium selbst zum Thema machte. Und 1934 zeigte Leni Riefenstahl mit "Triumph des Willens", wie man spektakuläre Massenszenen für propagandistische Zwecke missbrauchen kann.
In den 1960er Jahren gaben vor allem zwei Bewegungen dem dokumentarischen Genre neuen Schwung. In Frankreich begründete Jean Rouch mit dem Interviewfilm "Chronique d'un éte" (1961) das Konzept des Cinéma Vérité. Hier zielen die Filmemacher darauf ab, die Kamera als Katalysator zu nutzen, Reaktionen hervorzurufen und im Film zu protokollieren. Etwa zeitgleich entwickelten der Brite Richard Leacock und die Amerikaner D. A. Pennebaker und Robert Drew das Direct Cinema (auch Living Cinema), das sich zum Ziel setzte, Vorgänge zu beobachten, ohne in sie einzugreifen. Ermöglicht wurde dies insbesondere durch zwei Gestaltungsmittel: die Handkamera und die gleichzeitige ununterbrochene Aufnahme von Bild und Ton. Als Musterbeispiel dafür gilt Pennebakers Arbeit "Primary" (1960) über eine Vorwahl in Wisconsin. Das Online-Filmlexikon der Universität Kiel bringt den Unterschied auf den Punkt: "Vereinfacht gesprochen: Das Direct Cinema begleitet soziale Prozesse, das Cinéma Vérité stimuliert sie." Während die Nouvelle Vague in Frankreich sich von den Ideen des Cinéma Vérité inspirieren ließ, ist hierzulande das Werk Klaus Wildenhahns ohne Direct Cinema kaum denkbar.
In jüngerer Zeit fallen vor allem zwei dokumentarische Trends ins Auge: Zum einen nähern sich Dok- und Spielfilm an und verwischen die Grenzen wie zum Beispiel in "Adopted" (2010) von Gudrun F. Widlok und Rouven Rech sowie "Morgen das Leben" (2011) von Alexander Riedel. Wobei laut Guttner "das Bedürfnis nach gegenseitiger Bereicherung an die Stelle früherer ideologiegeprägter Abgrenzungen getreten ist." So entstehen hybride Formen wie Docu Drama, Docu Soap oder Mockumentary. Zum anderen sorgen experimentelle Ansätze für mediale Aufmerksamkeit, sei es Morgan Spurlock, der sich in "Super Size Me" als Fast Food-Versuchskaninchen betätigt, oder Michael Moore, der sich als bissiger Polit-Aktivist und Dauerprovokateur gerne selbst ins Bild rückt.
Welches Problem brennt den Dokumentarfilmschaffenden derzeit am meisten auf den Nägeln? Thomas Frickel, langjähriger Geschäftsführer der AG Dokumentarfilm, sagt dazu: "Was am heftigsten diskutiert wird in der gesamten Branche, ist die Frage der Online-Nutzung unserer Arbeiten durch Fernsehsender, vor allem durch die öffentlich-rechtlichen. Die Rechte in diesem Bereich werden immer stärker ausgeweitet, ohne dass wir dafür eine angemessene Vergütung bekommen. Wenn die Filme aber immer länger im Internet abrufbar sind, wird jede eigene Verwertungsmöglichkeit zerstört."
Derzeit sind die TV-Sender die wichtigsten Auftraggeber und Partner für dokumentarische Formate. Doch auch in diesem Segment macht sich allmählich FANGA bereit, also die großen amerikanischen Streaming-Portale Facebook, Amazon, Netflix, Google und Amazon. Für Frickel lässt sich aber zurzeit schwer einschätzen, ob diese Player auf längere Sicht zu alternativen Auftraggebern für Dokfilme avancieren. "Im Moment ist es wohl so, dass gerade Netflix auch Dokumentarfilme ankauft und bereitstellt. Da stimmen auch die Ankaufpreise einigermaßen, was man von Ankaufetats der öffentlich-rechtlichen Sender nicht sagen kann."
Und wie sehen die Perspektiven für den Kinodokumentarfilm in Zukunft aus? Frickel: "Warum erscheinen unsere Filme im Kino nicht mehr so wie vor 20 Jahren? Da hat sich in der Struktur der Kinos einiges geändert. Deshalb ist eine politische Entscheidung überfällig zu sagen, wir wollen, dass dokumentarische Filme auch weiterhin Bestandteil der Kinoprogramme bleiben, weil sie gesellschaftlich wichtig sind." In dieser Hinsicht müsse daher mehr passieren als bisher. "Es sollte kuratierte Programme geben, die die Kinos in die Lage versetzen, ein bestimmtes Publikum aufzubauen und zu pflegen. Diese kulturelle Komponente, die bei uns immer mitschwingt, ist im Alltagsbetrieb der Kinos, die ja jeden Tag Geld verdienen müssen, nur sehr schwer zu leisten."
Kategorie: Hintergrundbericht (GRIP FORUM)
Schlagworte: Dokumentarfilm, Institution, TV/Rundfunk, Kino