GRIP 52
01.05.2015
30 Jahre engagierte Praxis und Neue WUT
Martin Keßler – ein engagierter Macher von politischen Dokumentarfilmen
Von Claudia Prinz
Es gibt nicht mehr viele Dokumentarfilmer, die sich einen klaren politischen Standpunkt leisten. Martin Keßler ist einer von ihnen, heute pointierter denn je.
Seine Karriere begann 1985 mit einem Volontariat beim Frankfurter Dokumentarfilmer Malte Rauch und setzte sich 20 Jahre lang mit großen Dokumentationen und Reportagen für fast alle namhaften deutschen Fernsehsender fort (ARD, ZDF, ARTE, HR, WDR, SR). Er ist studierter Wirtschaftshistoriker und Germanist und hatte von Anfang an soziale und wirtschaftliche Themen im Fokus, weil er die Aufmerksamkeit auf Missstände in diesen Bereichen lenken wollte.
Als im Herbst 2003 in Berlin Massenproteste begannen und Zehntausende gegen die Regierung Schröder auf die Straße gingen, machte er verschiedenen Fernsehsendern den Vorschlag zu dokumentieren, was da im Entstehen begriffen war: eine neue Protestbewegung gegen den neoliberalen Trend und die Agenda 2010. Aber kein Sender wollte dieses Thema anfassen. Entschlossen wählte er einen anderen Weg.
„Ich habe dann gesagt: o. k., wenn das im Fernsehen nicht mehr geht, machst du das auf eigene Kappe. Dadurch, dass ich durch meine Filme zu sozialen und Globalisierungs-Themen bekannt war, hatte ich einen Namen, so dass es möglich war, Stiftungen und andere Partner für die Finanzierung zu gewinnen. Mit dem Rohschnitt von „Neue Wut“ wurden wir zu den ‚Mainzer Tagen der Fernsehkritik‘ ins ZDF eingeladen und von Chefredakteuren und Kommentatoren kräftig gelobt. Aber danach war es nicht möglich, den Film im Fernsehen zu senden, da er – angesichts bevorstehender Bundestagswahlen - politisch nicht erwünscht war." Der Film ist inzwischen ein historisches Dokument und wurde vom Haus der Geschichte in Bonn archiviert.
Nachdem Keßler noch versucht hatte, eine Reihe anderer Themen im Fernsehen unterzubringen und feststellen musste, dass das nur noch unter großen Einschränkungen möglich war, kehrte er dem Fernsehen den Rücken: „Wenn man 30 Jahre Erfahrung als engagierter, kritischer Filmemacher hat und dieses Selbstverständnis beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen immer weniger umsetzbar ist, muss man sich andere Wege suchen, die dann zwar nicht mehr ein so breites Publikum erreichen, dafür aber eine ganz andere Form von direktem Kontakt und Öffentlichkeit möglich machen“.
Sein Dokumentarfilm über die Studentenproteste gegen Studiengebühren in Hessen wurde im Frankfurter Kino Metropolis mit fast tausend Premierengästen gezeigt. Hundertschaften von Polizei umstellten das Kino, weil sie befürchteten, dass die Proteste nach dem Film weiter gingen - was auch der Fall war.
Seine Filme finanziert Keßler heute, indem er mit unterschiedlichen Institutionen zusammenarbeitet, beispielsweise der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt, der Heinrich-Böll- oder Rosa-Luxemburg-Stiftung, der GLS Bank oder mit Misereor. Das ist für ihn zwar wesentlich arbeitsintensiver als früher, denn fast 50 Prozent seiner Arbeit besteht aus Finanzierungsbemühungen und Veranstaltungsorganisation, es verschafft ihm aber auch mehr Freiraum.
Für das Fernsehen hatte Keßler Hintergrundfilme gemacht, die zeitnah zu den entsprechenden Themen herauskamen. Das versucht er weiterhin, indem er aktuell Situationen dokumentiert, in denen der Film auch noch etwas bewirken kann. Dabei erlaubt ihm seine Arbeit, Zusammenhänge nicht nur in einem einzelnen Film zu thematisieren, sondern in einer ganzen Reihe.
Eine dieser Langzeitbeobachtungen begann 2007. „Count-Down am Xingu“ dokumentiert den Widerstand gegen das drittgrößte Staudammvorhaben der Welt, Belo Monte im Amazonasgebiet. Dort sollen in den nächsten Jahren über 150 Einzelstaudämme gebaut werden, um im Rahmen der Globalisierung die reichen Vorkommen an Bodenschätzen zu erschließen, mit verheerenden Folgen für die Natur und den Lebensraum der indigenen Völker. Der Xingu-Staudamm ist das größte Bauprojekt Brasiliens mit über 11 Milliarden Euro Baukosten. 25.000 Bauarbeiter bauen daran, Mercedes Benz hat 500 Lastwagen für die Erdarbeiten geliefert, die Turbinen kommen von Siemens und Alstom, die Münchner Rück versichert das Projekt und mit dem Strom wird Aluminium hergestellt und in alle Welt exportiert.
Martin Keßler dokumentiert diese Zusammenhänge. Versucht Öffentlichkeit für das Thema zu schaffen. So auch mit seinem aktuellen Film „Countdown am Tapajos“ über einen Nebenfluss des Amazonas, an dem sieben Großstaudämme geplant sind, die Hunderte Dörfer indigener Völker überfluten und 100.000 Hektar Urwald zerstören würden. Diese Filme werden nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Englisch oder Portugiesisch veröffentlicht: „Wir schicken DVDs nach Brasilien, die dann dort über NGOs oder die katholische Kirche weitergegeben werden. Die Leute am Tapajos haben unter anderem auch durch unsere Filme Informationen über den Staudamm am Xingu erhalten und wissen, was auf sie zukommt. So leisten wir einen kleinen Beitrag gegen die Zerstörung des Amazonasgebietes."
Herausbringen will Keßler den Film Ende März, im Vorfeld einer Enzyklika zur Bedrohung der Schöpfung, die Papst Franziskus im Juni veröffentlichen wird. Bischof Erwin Kräutler aus Altamira, der den Widerstand am Xingu und Tapajos mitorganisiert hat und einer der zentralen Protagonisten in den Protestfilmen ist, hat maßgeblich an der Enzyklika mitgearbeitet. Eine Kurzfassung von „Countdown am Tapajos" kann im Internet abgerufen werden (siehe Filmografie). Obendrein sind weitere Veranstaltungen mit dem Film im Haus am Dom in Frankfurt und gemeinsam mit den Klima-Bündnis in anderen europäischen Städten geplant.
Das Projekt über die Staudämme in Brasilien ist inzwischen zu einem wichtigen Kommunikationsprojekt geworden. Es ist nicht nur eine Dokumentation des Widerstands gegen die Umweltzerstörung in all den Jahren, sondern die Filme werden auch im Internet veröffentlicht, um Öffentlichkeit zu schaffen und das um den Protest herum entstandene Netzwerk zu unterstützen. Insofern bezieht Martin Keßler jetzt noch stärker Position als früher: „Die Gefahr bei solch einem Engagement ist, dass man viel stärker hineingezogen wird. Das ist manchmal ziemlich kräftezehrend. Aber wenn ich Kollegen sehe, die noch fürs Fernsehen arbeiten, die haben mit vielen Konflikten in den Redaktionen zu kämpfen. Da habe ich ganz andere Freiheiten und niemand macht mir inhaltliche oder formale Vorschriften.“
Am 12. Mai feiert Martin Keßler im Frankfurter Naxos-Kino mit einer Filmschau und Diskussion das zehnjährige Bestehen von „neue WUT“. Weitere Infos: www.neuewut.de
Filmografie (Auswahl):
"Milde Gaben statt Sozialstaat" (ZDF 1997, 45 min)
"Billigjobs für Millionen" (ZDF 1998, 45 min)
"Schatten über der Stadt" (ZDF 1999, 45 min)
"König der Putzfrauen" (WDR 2000; 45 min)
"Das Milliardengrab" (WDR 2001, 45 min)
"David gegen Goliath" (ARTE, ZDF 2001, 60 min)
"Frankfurter Häuserkampf" (ARTE, WDR 2003, 60 min)
"neueWUT" (Dokumentarfilm 2005, 90 min)
"KICK IT LIKE FRANKREICH" (Dokumentarfilm 2006, 95 min)
"Das war der Gipfel" (Dokumenarfilm 2007, 90 min)
"Eine andere Welt ist möglich – Kampf um Amazonien" (Dokumentarfilm 2009, 96 min,)
"Count – Down am Xingu" (Dokumentarfilm 2011, 13 min)
"Marsch nach Brüssel" (Dokumentarfilm 2011, 18 min)
"Occupy Bankfurt" I + II (Dokumentarfilme 2011, je 15 min)
"Count – Down am Xingu II" (Dokumentarfilm 2012, 61 min)
"Die Räumung" (Dokumentarfilm 2012, 15 min)
"Count – Down am Xingu III" (Dokumentarfilm 2013, 76 min)
"Count – Down am Xingu IV" (Dokumentarfilm 2014, 75 min)
„Count – Down am Tapajos“ (in Arbeit, Kurzfassung: http://youtu.be/z_d1Y1p51Ps)
Kategorie: Personenportrait (GRIP FACE)
Schlagworte: Filmemacher*in, Dokumentarfilm, TV/Rundfunk