GRIP 46

01.05.2012

Ausnahmezustand des Kinos

Die wichtigsten und bemerkenswertesten Filmfestivals in Deutschland

Von Rüdiger Suchsland

"Ein Filmfestival war für mich der erste Ort einer Öffentlichkeit außerhalb der Filmhochschule. Man spricht mit Menschen über den Film, ich habe andere Filme gesehen und es gab Kontakte. Und manchmal gerät man da in eine Art Rausch, weil man plötzlich so eine Spur aus den Erzählungen eines Festivals hat. Man sieht Filme mit Leuten zusammen, man spricht darüber - und das muss mal Kino gewesen sein!"

Der deutsche Regisseur Christian Petzold war es, der schon vor einiger Zeit derart leidenschaftlich seine ersten Festival-Erfahrungen beschrieben hat. Zugleich benennt Petzold einige wesentliche Indizien für jenen Befund, der in den letzten Jahren unübersehbar geworden ist: In Zeiten, in denen nahezu alle Teile der Filmbranche in- und außerhalb Deutschlands klagen, boomen Filmfestivals mehr denn je. Gegen den Trend ist der Festivalbereich ein Feld starken Wachstums: Die Besucherzahlen steigen jenseits aller Krisen und Zahlentricks konstant, ebenso die Zahl der dort gezeigten Filme. Jedes Jahr werden Neugründungen im Dutzend gemeldet. Weit über 1000 Filmfestivals gibt es mittlerweile weltweit, also drei pro Tag - und das bei konservativer Zählweise.

Was genau ein Filmfestival ist, ist dabei jenseits der in Deutschland immerhin rund 20 etablierten Institutionen, eine Frage, über die man lange debattieren kann: Nicht jeder clevere Einfall eines Programmkinos ist schon ein Festival, und nicht jede "Festival" genannte Woche des italienischen, japanischen oder sonstwo verorteten Films verdient diesen Namen. Aber auch beim bayerischen "Fünf Seen Festival" gibt es Wettbewerb, Geldpreis, eine durchaus geschmackvolle Auswahl und einen Ehrengast - alles Attribute, die einem klassischen Filmfestival eigen sind.

Filmfestivals können also jedenfalls etwas sehr Unterschiedliches sein. Was sie in jedem Fall immer sind: Sie sind ein Ausnahmezustand: Sie zeigen Kino, das "sonst nicht", jedenfalls noch nicht zu sehen ist - Filme also abseits des üblichen Mainstream, sowohl in punkto Stil und Machart, als auch der Rezeptionsgewohnheiten. Zumeist haben sie ein irgendwie spezifisches, stilistisch oder durch ein Genre definiertes Programm. Und sie sollten sich - die guten tun es allemal - durch eine klar unterscheidbare geschmackliche Note, eine Handschrift auszeichnen.

Im Meer der Kinokrise scheinen Festivals eine Insel der Seligen zu sein und sind in Zeiten einer Privatisierung des Kinokonsums - weg von den Gemeinschaftssälen hin zum "Heimkino" per DVD – letztlich die einzige Gelegenheit, bei der noch die klassische Kinoerfahrung gemacht werden kann. Ihr grundsätzlicher Jahrmarktscharakter kommt dieser ursprünglichen Kinoerfahrung nahe, und gute Festivals sind, wie es Petzold beschreibt, immer auch Orte für Austausch jeder Art. Hier findet Kino noch im umfassenden Sinn statt.

In Deutschland lassen sich mehrere Formen von Festivals unterscheiden. Um keinen falschen Verdacht zu erwecken, sind zwei Festival hier nur gestreift, an deren Filmauswahl ich beteilgt bin: Erstens das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg, immerhin das zweitälteste deutsche Festival und neben der Berlinale das einzige mit einem internationalen Wettbewerb, FIPRESCI-Preis und ökumenischer Jury. Und zweitens das "Festival des deutschen Films", das die besten deutschen Filme eines Jahrgangs versammelt und mit dem "Filmkunstpreis" die höchstdotierte private Auszeichnung vergibt.

Doch nun der Reihe nach: Zunächst haben wir die Berlinale, die als internationales A-Festival natürlich konkurrenzlos ist. Das heißt nicht, dass sie besonders gut ist - im Gegenteil: In den letzten Jahren ist ein vermehrter Niveauverlust bemerkbar. Die Behauptung der Volksnähe ("Publikumsfestival") wird zum Argument für kuratorische Schlamperei, ästhetische Nivellierung und Quotendenken. Unter Leiter Dieter Kosslik ist die Berlinale zu einer vulgären Ballermann-Show geworden. Es gibt unzählige Nebenveranstaltungen, die gar nichts mit dem Festivalzweck des Filme-Zeigens mehr zu tun haben; zusätzliche Reihen wurden geschaffen, der Wettbewerb als Herzstück und Aushängeschild in Umfang und Qualität reduziert. Auch die Retrospektiven sind schwächer geworden und klassische Institution wie die Mitternachtsvorstellungen wurden ganz abgeschafft - also gerade das, was Festivals vom Üblichen unterscheidet. So verwechselt die Berlinale den berechtigten Wunsch, ein populäres Festival zu veranstalten, mit haltungslosem Populismus. Statt dem sehr offenen Publikum Herausforderungen zuzumuten, ein Kino zu pflegen, das auch irritiert und sucht, befriedigt man lieber die Großindustriellen der Filmbranche und die Sponsoren in den Fernsehanstalten.

Die Leerfloskel vom "Publikumsfestival" wird auch anderenorts gern beschworen. Etwa beim weitaus häufigsten zweiten Festivaltyp: Veranstaltungen, die ihr Programm nach der Devise "Jeder kann mitmachen" und "Wir nehmen, was wir kriegen" zusammenknoten, Filme anderer Festivals nachspielen und ihre haltungslose Beliebigkeit als Publikumsfreundlichkeit ummänteln. Vor allem München und Hamburg gehören dazu. Sie zählen in der Branche wenig und werden überregional kaum wahrgenommen.

Weitaus interessanter sind zwei Festivals mit starkem deutschen Schwerpunkt: Zuerst Saarbrücken mit dem renommierten Max-Ophüls-Preis - ein erfrischendes, junges, sehr engagiert gemachtes Festival mit sehr hoher Qualität. Wer sich über neue deutsche Filme informieren will, muss hierher kommen. Daneben steht natürlich Hof, das Erntedankfest eines jeden Filmjahres. Hier ist der Altersschnitt höher, Geselligkeit wichtiger, und die Auswahlkriterien weniger streng, was hier und da die Qualität des Programms schwanken läßt. Doch Hof ist vor allem die One-Man-Show von Heinz Badewitz, dem besten Gastgeber der deutschen Filmszene, dessen unüberbietbarer Humanismus aus dem Festival die ideale Startrampe für Filme und Gäste gemacht hat.

Diese Festivals müssen in ihrer Auswahl kleinere oder größere Abstriche machen, während Oberhausen und Leipzig in ihrer Konzentration auf den Kurzfilm respektive den Dokumentarfilm (Leipzig) große internationale Ausstrahlung haben. Die gibt es auch bei den Lübecker "Nordischen Fimtagen", bei den Nürnberger Festivals für "Deutsch-türkische Filme" beziehungsweise "Menschenrechtsfilme" wie auch beim "Go East-Festival" in Wiesbaden.

Eine Sonderstellung mit Entwicklungspotential haben das "Fantasy-Filmfest" und das "Asia-Filmfest", das deren Modell zu kopieren sucht. Den vielleicht interessantesten Festival-Typus des kleineren, aber durch Eigensinn, Cinephilie und Offenheit zum Extremen markierten Filmfestivals könnte das Filmfest Oldenburg besetzten, das durch seine großartige Titelauswahl besticht, läge es terminlich (Mitte September) nicht so ungünstig und litte die Auswahl der deutschen Sektion nicht zu stark unter Konzessionen ans Mainstreampublikum.

Aber haben Filmfestivals eine Zukunft? Ja, unbedingt. Kulturpolitisch spielen sie mehr den je eine wichtige Rolle als Orte der Kommunikation - aber nur, wenn sie sich spürbar vom Fernsehprogramm und dem DVD-Regal unterscheiden. Nur dann macht öffentliche Förderung auch Sinn. Dabei verändern die Festivals ihr Wesen zunehmend und könnten inzwischen sogar gefährlich für das Kino werden, gerade die hochgelobten "Publikumsfestivals". Denn sie graben dem übrigen Kino das Wasser ab. Vor allen Dingen jenen Kinobetreibern, die über das Jahr hinweg ihr Publikum pflegen. Dadurch leisten viele Festivals unterschwellig dem fragwürdigen Wandel der Kultur hin zur Eventkultur Vorschub.

Festivals können aber die Filmkunst auch unterstützen. Die oft erlebbare Fixierung auf Eintrittszahlen ist hier aber kontraproduktiv. Echter Erfolg ist anders messbar. Ein Festival ist die Ausnahme von der Regel des Kinobetriebs. Festivals haben wie jede öffentlich geförderte Kulturveranstaltung eine Verantwortung für das Ganze, die über Selbsterhaltung hinausgeht. Ihre Aufgabe ist, ein Forum, eine Bühne zu werden und für neue Generationen neue Entdeckungen zu bieten. Ein Festival tut dem Kino und unserer Leidenschaft für Filme einen schlechten Dienst, wenn es nicht über sich selber hinaus ausstrahlt.

Kategorie: Hintergrundbericht (GRIP FORUM)

Schlagworte: Festival, Nachwuchs, Kino, Filmkultur, Kulturförderung

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