GRIP 43
01.11.2010
Befreite Bilder
Seit 2006 entstehen in Hessen Filme für 360°-Kuppelprojektionen, die jährlich zum Fulldome-Festival im Planetarium Jena uraufgeführt werden.
Von Rotraut Pape
Das Dilemma ist das Rechteck. Die eigene virtuelle Welt, also das, was man im Kopf hat – die inneren Bilder, Gedanken, Gefühle, Vorstellungen – real werden zu lassen, war im Medium Film und Video immer eng an die technologischen Entwicklungen der jeweiligen Epoche gebunden. Aber einerlei in welchem Genre oder mit welcher Technik man seit 115 Jahren unterwegs ist, das Format hat sich kaum verändert. Ob Fenster, Bühne oder Schlüsselloch, der mediale Blick auf die Welt ist ein Ausschnitt, präzise gesagt, ein rechteckiger Ausschnitt. Bis vor kurzem noch konnte man diesem lähmenden globalen Diktat der marktbestimmenden Konzerne nur durch ein „Expanded Cinema" oder raumgreifende installative Multichannelworks entkommen. Heute verschmelzen sämtliche die Sinne verlängernden Medien in einem Gerät: Im Computer ist alles kompatibel und die vielfältigen Formate und Kantenlängen lassen sich nun digital in alle gewünschten Proportionen und Dimensionen biegen und strecken. So entstehen gattungsübergreifende, das Genre auch inhaltlich sprengende Formate, die derzeit – aber in Überschreibung älterer Techniken gleichsam auch rückwirkend – innovativ im Audiovisuellen formulierbar machen, was bislang so nicht formulierbar war.
Das Angebot von Micky Remann, Dozent im Lehrgebiet „Medien-Ereignisse" der Bauhaus Universität Weimar, Kurzfilme für die in 2006 gerade frisch installierte Laser-Ganzkuppelprojektion im Zeiss Planetarium Jena zu entwickeln, eröffnete den Filmstudenten ganz neue Möglichkeiten zur Befreiung ihrer Bilder. Mit Unterstützung von Birgit Lehmann, Filmemacherin und Dozentin für Drehbuchentwicklung an der HfG, tauchten wir ein in neue Dimensionen: Die Kuppel misst gigantische 25 Meter im Durchmesser; die von Unschärfen freie 360°-Leinwand umschließt die Zuschauer. Auf etwa 900 Quadratmetern Projektionsfläche befindet sich „Oben" nicht mehr an der Oberkante eines Rechtecks, sondern in der Mitte eines runden Bildes. Erst Gehirnakrobatik, um sich das alles überhaupt vorzustellen, dann folgt der „Renderwahn", die neue „Krankheit", die auftaucht, wenn Mensch und Computer an ihre Grenzen stoßen beim wiederholten Versuch, die meist aus mehreren Bildern zusammengesetzten großformatigen Einzelbilder durchnummeriert aus dem Computer wieder heraus zu rendern und transportabel zu machen. Aber welch atemberaubendes Erlebnis, wenn die Projektion dann die Kuppel aufmacht und den Blick freigibt auf „reale Virtualitäten". Vom passiven Standpunkt des externen Beobachters erlöst rückt der Zuschauer in die Mitte des fiktiven Geschehens – fast wie im echten Leben.
Zur Premiere der Filme gründeten die beteiligten Hochschulen (Weimar, Kiel, Offenbach) und das Zeiss-Planetarium 2007 das 1. Fulldome-Festival in Jena; seitdem finden dort jährlich die Uraufführungen der Filme im studentischen Wettbewerb statt, die nun auch international Preise gewinnen. Jetzt hat sich das Festival zum Knotenpunkt der Kuppelfilm-Community von San Francisco über Moskau bis Melbourne entwickelt. Ein Netzwerk entsteht um ein neues Medium herum. Die Arbeit an der Entwicklung einer Filmsprache und an Filmen, die sich in berauschender Qualität als gemeinsames, brillenloses Erlebnis nur an geeigneten Orten und nicht allein zu Hause vor dem Flatscreen erleben lassen, hat überall begonnen.
Mit Unterstützung der hessischen Film- und Medienakademie (hFMA) wird im Wintersemester 2010/11 wieder ein Fulldome-Workshop für alle Mitglieder des hFMA-Hochschulverbunds angeboten. Vorträge, gemeinsame Workshops zur Stoffentwicklung und Realisierung narrativer Kurzfilme im Rundumraum, ein Initiierungs-Wochenende auf dem Firmengelände von Carl Zeiss, Test-Screenings in Planetarien, flankierende technische Unterstützung durch illustre internationale Spezialisten und gemeinsame Exkursionen zu anderen Orten immersiver Projektionen stehen auf dem Programm. Damit wird auch die zunehmende Vernetzung der Studierenden aus den hessischen Hochschulen untereinander und nach außen betrieben. Man lernt sich kennen und schätzen, tauscht sich aus und befruchtet sich gegenseitig mit avanciertem Know-How. Allianzen entstehen. Die fertig gestellten Arbeiten werden schließlich zum 5. Fulldome-Festival am 13. und 14. Mai 2011 in Jena präsentiert.
* Rotraut Pape ist Professorin für Film und Video an der Hochschule für Gestaltung Offenbach (HfG)
Kategorie: Gastbeitrag (ehemals Selbstdarstellungen von institutioneneigenen Mitarbeitern / ab GRIP 63)
Schlagworte: Ausbildung/Weiterbildung/Studium, Kurzfilm, Nachwuchs
