GRIP 38

01.05.2008

Anthropologen des Alltags

Ein Porträt der Filmemacher Mischka Popp und Thomas Bergmann

Von Claudia Prinz

„Dokumentarfilm ist erstens Film und zweitens hat er mit der Wirklichkeit zu tun. Aber Realität ist nicht nur das, was wir abbilden. Man sagt immer, was die Kamera aufnimmt, das ist die Realität. Aber das bezeichnet nichts anderes als den technischen Prozess. Wir sehen alle das gleiche, aber nicht dasselbe. Wie ein Anderer die Welt wahrnimmt, wissen wir letztlich nicht. Deshalb ist Subjektivität ein ganz zentraler Begriff in unserem Filmemachen. Wir zeigen unseren Blick auf die Welt".

Damit umreißt Thomas Bergmann die Essenz der vielen, oft preisgekrönten Filme, die Mischka Popp und er in den letzten 30 Jahren gemeinsam gemacht haben. Ihre Zusammenarbeit beginnt Mitte der 70er, als sie sich über ein geplantes Fernsehprojekt des Hessischen Rundfunks kennen lernen. Mischka Popp ist auf der Suche nach einem Partner und man empfiehlt ihr Thomas Bergmann. Eine lebhafte und nicht ganz konfliktarme Arbeitsbeziehung beginnt, die bald auch zu einer Liebesbeziehung wird. Nach einem dreiviertel Jahr ziehen sie zusammen und verbinden ihre beiden Berufskarrieren. Sie streiten viel über die Arbeit, ergänzen sich aber auch sehr gut, und haben inzwischen herausgefunden, wo die eigenen Schwerpunkte und Vorlieben liegen. So sind sie ein erfolgreiches Produktionsduo geworden, das in den ersten Jahren für die Dritten Programme von Fernsehen und Hörfunk ganze Konzepte und Sendereihen mit Life-Teilen umsetzte, insgesamt an die 300 Minuten im Jahr.

Nach einer Phase, in der sich ihre Filme hauptsächlich um Schule, Bildung und Ausbildung drehten, begannen andere Themen sie mehr zu interessieren. 1983 gründet Mischka Popp die Firma Pilotfilm GmbH, die von da an die gemeinsamen Filme produziert. 1988 entsteht mit „Die Potemkinsche Stadt" der erste Kinofilm, der vom Leben und Überleben in den Trabantenstädten Europas erzählt und mit Preisen überhäuft wird. Es folgt eine Anzahl von zeitlosen Dokumentarfilmen, die noch nach Jahren an Hochschulen oder bei öffentlichen Veranstaltungen gezeigt werden. Diese zeichnen sich durch das Bemühen aus, für jeden Film einen neuen Weg und durch formale Strenge eine bestimmte geschlossene Form zu finden.

Obwohl Dokumentarfilme in den 80er Jahren noch Primetime - Programmplätze in vielen Sendern hatten, war der Sprung zum Einzelfilm schwierig, vor allem, weil sie zu zweit davon leben mussten. Aber sie gingen das Risiko ein und waren erfolgreich, nicht zuletzt deshalb, weil es ihnen gelang, mit vier verschiedenen Redaktionen zusammen zu arbeiten, die ihre Arbeiten sehr unterstützten und später auch in Koproduktionen einstiegen.

Film ist für Popp/Bergmann grundsätzlich etwas Arbeitsteiliges. Sowohl für ihre langen Kinofilme als auch für kürzere Produktionen zwischendurch, die sie ihre „kleinen Gurken" nennen, ist ihnen Teamarbeit besonders wichtig. Sie arbeiten fast immer mit den gleichen Leuten, beispielsweise mit dem Spielfilm-Kameramann Jörg Jeshel oder dem Cutter Peter Przygodda, der auch fast alle Filme von Wim Wenders, Reinhard Hauff und Volker Schlöndorff geschnitten hat, und sie schätzen die jahrelange quasi familiäre Vertrautheit, die sich durch die Teamarbeit einstellt.

Dabei nimmt der Schnitt eine Schlüsselposition ein. „Beim Dreh ist man sich der Qualität oft nicht so sicher", sagt Mischka Popp, „und am Schneidetisch ist man dann ganz verblüfft. Wie bei einer Zwiebel muss man manchmal Schicht für Schicht ablösen, um an den Kern der Aussage zu kommen, die den jeweiligen Menschen ausmacht. Früher hat man immer darauf geachtet, dass das, was die Leute sagen, etwas Wichtiges ist; eine Aussage, die Bestand hat. Heute wissen wir, dass das ‚wie’ oft eine noch größere Rolle spielt, zu sehen, wie Menschen nachdenken. Kleine Sachen, die oft herausgeschnitten werden, die gilt es aufzuheben und daraus zu schöpfen. Wir haben immer den Eindruck, das Material kommt auf uns zu und es ist ein spannender Prozess, ihm beim Schnitt gerecht zu werden".

Nicht zuletzt steigert ein erstklassiges Team die Qualität des Produkts Film, ein Produkt, das in ihrem Fall nicht Hochglanzportrait ist, sondern immer versucht, das Außergewöhnliche im Allgemeinen darzustellen. Ihre Themen sind komplex. „Wir versuchen ein Thema einzukreisen, es in eine bestimmte Richtung zu entwickeln", sagt Thomas Bergmann. „Wir haben sehr oft Filme gemacht, die etwas darstellen, was in den Köpfen von Menschen passiert, das was man ’das Unsichtbare’ nennt. Die meisten unserer Filme haben wir nur ganz streng und ganz stilisiert bebildert. Dahinter steckt das Wissen, das das größte Abenteuer und die größte Projektionsfläche, der größte unbekannte Kontinent und das größte erotische Organ unser Hirn ist. Gedanken sieht man nicht und doch bauen sie die Welt".

Zwei Preise für ihr Lebenswerk haben Mischka Popp und Thomas Bergmann bereits erhalten: den Hessischen Filmpreis und den Medienpreis der evangelischen Kirche: den Robert–Geisendörfer–Preis. Da sind sie doch etwas zusammengezuckt und haben gedacht: „Noch leben wir ja. Das ignorieren wir und machen einfach weiter!" Ihr nächstes Projekt heißt im Arbeitstitel „Frühling in Russland" und dreht sich um jüdische Zuwanderer aus den ehemaligen Staaten der UdSSR, die seit den 90er Jahren verstärkt nach Deutschland gekommen sind. Die Finanzierung für den Film ist geschlossen und die Dreharbeiten beginnen in diesem Jahr.

Mischka Popp und Thomas Bergmann sind Mitglieder der Deutschen Filmakademie und wählen die Bewerber um den Deutschen Dokumentarfilmpreis mit aus.

Filme (Auswahl)

Der Rauch der Träume (2007)
90 Jahre Plus (2005), Deutscher Sozialpreis 2006
Augenlied (2003), Hessischer Filmpreis 2003
Higgs – die Jagd nach dem Unsichtbaren (2000), Prix Leonardo 2001
Kopfleuchten (1998), Hessischer Kulturpreis 1998, Prix Leonardo 1999, Adolf-Grimme-Preis 2000 für Buch, Regie, Schnitt und Kamera
Körper (1995), Prix Leonardo 1995
Herzfeuer – Geschichten von Sex und Liebe (1993), Premiere Doku-Preis 1994
Giftzwerge (1990), Hessischer Filmpreis 1991
Die Potemkinsche Stadt (1986), Erster Preis Ökomedia 1988, Förderpreis der Stadt Freiburg 1988, Bronze Award International Filmfeestival Houston 1989, Hessischer Filmpreis 1990
Vom Flachlegen und Aufstehen – ein Heimatfilm (1986), Adolf-Grimme-Preis 1987

Kategorie: Personenportrait (GRIP FACE)

Schlagworte: Filmemacher*in, Dokumentarfilm, Filmproduktion

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