GRIP 36

01.05.2007

Nicht entweder oder, sondern sowohl als auch

Ein Porträt der Dokumentar- und Experimentalfilmerin Lilo Mangesldorff

Von Claudia Prinz

In der deutschen Filmlandschaft neigt man nicht selten dazu, Filmemacher in exakte Schubladen zu sortieren, wo sie dann ewig und immer verbleiben. Man ist Experimental-, Dokumentar- oder Werbefilmer; der Kurzfilm ist zum Üben da; der Spielfilm gilt als Königsdisziplin. Glücklicherweise gibt es Filmschaffende, die sich aus diesem Korsett befreien und sich mit ihren Arbeiten - je nach Thema und Interesse - quer durch alle Genres bewegen. Dies zeichnet auch die Filmemacherin Lilo Mangelsdorff aus.

Ihre Ausbildung ist unspektakulär. Nach einem Pädagogikstudium und mehreren Übergangsjobs beginnt sie ein Zweitstudium an der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Offenbach. Dort entwickelt sich unter der Leitung von Werner Nekes gerade ein Schwerpunkt “Film“, und Mangelsdorffs Medium wird der Videofilm, mit dem sie schon zuvor als Medienpädagogin nachhaltig in Berührung gekommen war. Hatte sie doch in der Videowerkstatt Bornheim - zwar mit wenig filmischer Raffinesse, aber mit viel Engagement - Videodokumentationen über Bürgerinitiativen und ökologische Fragen gemacht. In diese Phase fiel schließlich auch die Zusammenarbeit mit Wolfgang Schemmert, mit dem sie dann 1983 die Firma Cinetix GmbH gründet.

Die Produktionsbedingungen an der HFG in Offenbach sind allerdings aus ihrer Sicht nicht sehr viel professioneller, was den Themenradius für sie von vornherein einschränkt. So weicht Lilo Mangelsdorff aus und entdeckt ihr Talent für den Experimentalfilm. Sie produziert – fast immer gemeinsam mit Wolfgang Schemmert - experimentelle Videos und Installationen, die ihren Weg in Frankfurter Galerien finden.

Dennoch liegt ihr die Dokumentation weiter am Herzen und es fällt ihr nicht schwer, Experimentalfilm und Dokumentation miteinander zu verbinden, so zum Beispiel 1984 in „Robototal“, einer experimentellen Dokumentation über Verkabelung und Computerisierung, ausgelöst durch die Einführung des neuen Plastik-Personalausweises.

Methodisch unterscheiden sich die beiden Stilformen für Lilo Magelsdorff ohnehin kaum: beide entstehen in einem prozesshaften Verlauf, der nicht vorher festgelegt wird. Wenn sie sich ein Sujet oder ein Thema sucht, arbeitet sie entweder mit dem Material, indem sie durch die Bilder und die Montage einen bestimmten Ausdruck erzeug; dann ist es mehr experimentell. Oder sie lässt sich bei der dokumentarischen Arbeit mehr auf die Personen und die Situation ein; und auch dann ist das Endergebnis nicht im vorhinein festgelegt.

Im Jahr 1992 wird Lilo Mangesldorff künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Einerseits ist dies wegen des Kontakts zu den Studierenden eine interessante Aufgabe und garantiert ihr ein regelmäßiges Einkommen. Andererseits aber bleibt ihr zu wenig Zeit für eigene Filme, so daß sie sich 1995 erst einmal von einer Universitätskarriere verabschiedet und sich wieder verstärkt dem Filmemachen zuwendet. Sie bekommt aber weiterhin Lehraufträge wie letztes Semester an der Universität Frankfurt oder demnächst an der Uni Paderborn.

Jenseits freilich ihrer bisherigen Arbeitsweisen erprobt sie weiter neue Form, wie beispielsweise mit dem 2000 entstandenen „Bebuquin – Rendezvous mit Carl Einstein“. Ein 80-minütiger Filmessay, der den Spuren einer der schillerndsten Geistesgrößen zwischen den beiden Weltkriegen folgt, gedreht auf Super-16 mit Hanns Zischler in der Hauptrolle. Hier arbeitet sie erstmals mit der Kamerafrau Sophie Maintigneux zusammen und auch hier ergänzen sich Dokumentarisches und Experimentelles in idealer Weise.

Besonders erfolgreich ist Lilo Mangelssdorff aber schließlich mit "Damen und Herren ab 65“, der Dokumentation eines Tanzexperiments, für das Pina Bausch ihr 1978 geschaffenes Stück „Kontakthof“ noch einmal mit älteren Laientänzerinnen und Tänzern einübt. Wieder steht Sophie Maintigneux hinter der Kamera und erhält dafür 2003 den Deutschen Kamerapreis. Auch der Preis der Deutschen Filmkritik für den besten Dokumentarfilm 2003 und der Jury-Preis des "Dance-on-Camera Festivals" in New York 2004 gehen an „Damen und Herren ab 65“.

Die Arbeit an einem Film dauert manchmal Jahre. Vor allem die Phase der Finanzierung kann zu großen Verzögerungen führen, so dass Geduld, Optimismus und gute Nerven gefragt sind - und ein bisschen Glück bei Filmförderungen und Fernsehsendern. Für ihren neuesten Film „Wir sehen voneinander“ hat Lilo Mangelsdorff zwei Jahre gedreht, ein Jahr lang geschnitten, und zu guter Letzt hat es abermals Monate gedauert, bis der Film endlich im Februar in die Kinos kam.

"Wir sehen von einander" ist wieder ein Dokumentarfilm mit einem außergewöhnlichen Thema. Er führt uns in eindrucksvollen Bildern die Welt der vierjährigen gehörlosen Selina vor Augen, deren Eltern erkannt haben, wie wichtig die Gebärdensprache für ihr Kind ist, und auf diese Weise mit ihm kommunizieren. Damit ist die Gebärdesprache für Selina eine echte Muttersprache, was keineswegs selbstverständlich ist, denn die Gebärdensprache war rund 100 Jahre lang tabu. Der Unterricht an Gehörlosenschulen in Deutschland fand lautsprachlich statt. Die offizielle Anerkennung als Minderheitensprache begann erst Ende des 20. Jahrhunderts; Hessen war in dieser Hinsicht 1998 als erstes Bundesland Vorreiter.

Auf dieses Thema stieß Lilo Mangesldorff während ihrer Recherche zu einem Film über Laienchöre, als sie von einem Gebärdenchor in einer Frankfurter Gemeinde erfuhr. Kurz entschlossen stellte sie die Chöre zurück. "Sie werden in meinem nächsten Film zu sehen sein," verspricht sie. Auch die nächste Produktion solle wieder eine Dokumentation werden. “Ich glaube, da habe ich vorläufig erst einmal meine Form gefunden. Spielfilme sind mir von der Produktionsweise her zu kompliziert. Für einen guten Dokumentarfilm kann man immer Interesse wecken.“

Filmografie (Auswahl):

Wir sehen voneinander
2006, 35mm, 91 Min.

Damen und Herren ab 65 – ein Tanzprojekt mit Pina Bausch
2002, 35 mm • 70 min. • mono

Der Bebuquin - Rendezvous mit Carl Einstein
2000, 35 mm • 80 min. • Dolby SR

Irgendwo habe ich Sie schon mal gesehen
1998, Beta SP, 3:15 Min.

Das sind wir
1995, Beta SP/16mm, 13 Min

Happy and ...
1989, 16mm, Farbe, 44 Min.

Winterwideo
1985, U-matic, 18 Min.
(gemeinsam mit Wolfgang Schemmert)

Viva aviS
1985, 16 mm, Farbe, 6 Min. Prädikat wertvoll (FBW)

Imbiss
1985, U-matic, 23 Min.

Was wäre der Staat ohne seine Mauern?
1984, U-matic, 75 Min.
(gemeinsam mit Wolfgang Schemmert)

Robototal
1984, U-matic, 27 Min.
(gemeinsam mit Wolfgang Schemmert)

Zwischen zwei Städten
1984, 16mm, Farbe, 10 Min.

Kategorie: Personenportrait (GRIP FACE)

Schlagworte: Filmemacher*in, Experimentalfilm, Dokumentarfilm, Ausbildung/Weiterbildung/Studium

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