GRIP 34
01.02.2006
Überleben in Nauheim
Monatelanges Tauziehen um das ambitionbierte Nauheimer Programmkino »Riedcasino«.
Von Paul Rainer Wicke* / Daniel Güthert
Wer zum ersten Mal ins südhessische Nauheim kommt, ist ernüchtert: entlang der Hauptstraße nur noch eine Take-away-Pizzeria, ein Quelle-Bestellshop, ein letztes Schuhgeschäft, viele aufgegebene Läden in kleinen Nikolaus-Wohnhäuschen. Ein Brunnen aus Kieselwaschputzplatten der siebziger Jahre markiert den Ortskern und den letzten Versuch einer Gestaltung des öffentlichen Raumes. Und zwischen all den niedlichen Vorgärten ein altes Kino aus den dreißiger Jahren, das jedoch noch in Betrieb ist und als Programmkino (»Riedcasino«) jüngst erst sein 25-jähriges Jubiläum feierte.
Aber die Verödung des Ortes scheint auch vor diesem Kleinod nicht halt zu machen. Für den 31. März ist jedenfalls, ungeachtet akzeptabler Besucherzahlen, die Schließung angekündigt – nach monatelangem, zermürbendem Tauziehen zwischen Pächtern, Eigentümern und der Stadt. Aber, wer weiß, vielleicht wendet sich das Blatt noch. Am 26. März stehen Kommunalwahlen an und eines der Wahlkampfthemen ist jetzt doch der Erhalt des Kinos.
Lohnen würde es sich allemal. Zwar mag man der Meinung sein, dass das Haus von außen nicht viel hermacht. Betritt man indes den großen Saal mit den ehemals 300 Sitzplätzen, dann ist immer noch spürbar, was das Filmtheater einmal war: ein »cinematographischer Erlebnisraum«. Das gedämpfte Rot, Beige und Gold des Saales, zuletzt renoviert in den 50er-Jahren und durchaus vergleichbar mit dem Glanz eines Opernhauses, emotionalisiert und bietet wirklich noch etwas von jener magischen Aura, von der das kleine Arthouse-Kino noch heute profitiert.
Gäbe es in Nauheim eine konsequente Stadtplanung, dann hätte man längst diesen phantastischen Kinosaal als Symbol regionaler Identität begriffen. Und gäbe es eine überzeugende Kulturpolitik, hätte man sich schon lange mit den Betreibern des Kinos zu einem breiten Kulturangebot zusammengetan und hätte damit auch einen Beitrag zu mehr Lebensqualität in Nauheim festgeschrieben.
Statt dessen sind die vier jetzigen Kinobetreiber (Andreas Andel, Julia Fleißig, Achim Grünwald und Christiane Leonhardt) bislang mehr oder weniger allein gelassen worden von der Stadt. Über ein Jahr stand das insolvente Filmtheater bereits leer, als die vier Idealisten sich im Oktober 2004 mit viel Enthusiasmus daran machten, das Schiff wieder flott zu bekommen. Mit anspruchsvollem Repertoire und einer Fülle von Begleitprogrammen. Und in der Hoffnung, die Stadt werde die zum Erhalt des Gebäudes dringend notwendigen Sanierungsarbeiten übernehmen. Doch daraus ist nichts geworden.
Monatelang sei lediglich über die Renovierung verhandelt worden, wie Programmleiterin Julia Fleißig erklärt. Immer wieder sei die erforderliche Unterstützung zugesichert worden – vor allem in der heißen Wahlkampfphase zur Bürgermeisterwahl, im Herbst 2005, als sich alle Kandidaten reihum zum Fortbestand des Kinos bekannt hätten. Doch gekommen ist alles anders.
Im November 2005 fand sich wie aus heiteren Himmel ein Käufer, der die Immobilie bei einer Zwangsversteigerung für 162.000 Euro erwarb und den Kinomachern prompt die Kündigung zum 31. März auf den Tisch legte. »Der will das Haus erstmal nur dicht machen,« so Julia Fleißig, die entsetzt ist über die Entwicklung. Denn bislang habe der Käufer kein Nutzungskonzept vorgelegt und wegen der festgeschriebenen Nutzungsbindung des Gebäudes habe er eigentlich auch gar keine große Wahl. »Aber das scheint alles niemanden mehr zu interessieren.«
Besonders enttäuscht ist die junge Kinoleiterin vor allem von dem neuen Bürgermeister Ingo Waltz (SPD): »Was hatte Bürgermeister Waltz nicht alles versprochen im letzten Jahr, vor seiner Wahl. Zig Mal war er bei uns zu Veranstaltungen. Und jetzt?« Trotz der Rückschläge will Julia Fleißig die Hoffnung nicht aufgeben, obwohl, wie sie sagt, diese seit eineinhalb Jahren währende Hängepartie »sehr viel Kraft gekostet hat.«
Aber zum Glück ist Nauheim nicht überall! In einigen hessischen Kommunen werden die Chancen durchaus gesehen, die mit dem Erhalt vorhandener Kinos als kultureller Einrichtung und auch als Standortfaktor verbunden sind. So engagieren sich die Kommunen, die zwar kaum finanzielle Mittel, dafür aber eine vorhandene Infrastruktur bereitstellen, um aus den oft zentral gelegenen Kinos kleine Kulturzentren zu entwickeln, die einen großen Anteil am kulturellen Leben einer Kommune haben können.
Und was müsste, was könnte Kino nicht alles sein, damit es diese Funktion eines kulturellen Zentrums ausfüllt und vom Publikum angenommen wird? Ein Ort, der Platz bietet für Gespräche, für Ausstellungen, für spezielle Filminteressen, für die Wiederentdeckung des eigenen Filmerbes, ein Ort zum Stöbern in Zeitschriften, Bildern und Büchern, ein Ort, der der Vielfalt von Kinokultur gerecht wird. Aber auch andere, alternative Formen werden in einigen wenigen Landkinos bereits ausprobiert, etwa die Verbindungen zwischen Kino und Theater, Lesung und Film, Opernaufzeichnungen oder Live-Events in digitaler Projektion, Themen- und Länderabende, Mischformen also, die die Trennungen zwischen den Künsten aufheben.
Die kostbare Freizeit auch außerhalb der eigenen vier Wände gemeinsam mit anderen Menschen sinnerfüllt zu verbringen, diesem Anspruch konnten und wollten die in die Krise geratenen, kalten Multiplex-Giganten in den Großstädten der 90er Jahre nie gerecht werden. Nun machen sich die kleineren, sehr individuell geführten Häuser auf, durch ihre Atmosphäre und ihren spezifischen Charakter zu punkten – diese Chance sollten sie für ihre dauerhafte Konsolidierung nutzen. Und die Kommunen sollten dies nach Kräften begleiten.
*Anmerkung der Redaktion: Paul Rainer Wicke ist Leiter des Film- und Kinobüros Hessen. Zuvor hat er 19 Jahre das Nauheimer »Riedcasino« geleitet. Seine Erfahrungen mit Nauheim hat Paul Rainer Wicke zusammen mit Götz Penner in dem Dokumentarfilm »Überleben in Nauheim« festgehalten, der im Rahmen der Hessen-Filmtour im März 2006 in 12 hessischen Kinos läuft. Genaue Termine unter www.film-hessen.de
Kategorie: Hintergrundbericht (GRIP FORUM)
Schlagworte: Kino, Filmkultur, Filmpolitik