GRIP 13

01.11.1995

Markenzeichen für Filmkultur: Das „Kino Traumstern" in Lich

Wenn die mittelhessische Kleinstadt Lich unter Filmfreunden bundesweit bekannt ist, dann liegt das weniger an der gleichnamigen Biermarke, sondern in erster Linie an einem Markenzeichen für Filmkultur: dem „Kino Traumstern". Das im September 1983 eröffnete Programmkino hat aufgrund seines anspruchsvollen Programms überregional einen so guten Ruf, daß selbst sogenannte VIPs sich nicht zu schade sind, in die hessische Provinz zu reisen. In diesem Oktober erfuhren die langjährigen Bemühungen der beiden Betreiber Hans Gsänger und Edgar Langer um die Förderung der Filmkunst ihre bisher wichtigste offizielle Würdigung. Bei der Verleihung der Film programmpreise in Bonn zeichnete das Bundesinnenministerium den „Traumstern" mit dem Spitzenpreis für herausragendes Kinoprogramm im Wert von 30.000 Mark aus.

Von Reinhard Kleber

Bei den Förderpreisen des Bundesinnenministeriums (BMI) räumt das Licher Kino schon seit 1984 jedes Jahr wenigstens eine Auszeichnung ab. 1991 erhielt der „Traumstern“ sogar die BMl-Prämien in allen drei Sparten - Jahresprogramm, Kinderfilm und Kurzfilm. Des öfteren ging in den Vorjahren auch der Hessische Kinopreis nach Lich, so auch in diesem Herbst. Gleich sechsmal in Folge vergab der Landkreis Gießen seinen Förderpreis „KinokuItur auf dem Lande“ an den „Traumstern“.

Für die Finanzkalkulation des Betreiber-Kollektivs spielen die Preissummen eine wichtige Kolle. Sie halten „vor allem bei schwierigen Projekten ein bißchen den Rücken frei“, sagt Edgar Langer. Denn einerseits wollen er und sein Kompagnon ein „konsequentes und anspruchsvolles Programm“ bieten, andererseits können sie dieses natürlich nicht vor leeren Stühlen spielen. Mit einem geschickten Programm-Mix versuchen sie, die Balance zwischen Kunstanspruch und Publikumsattraktivität zu halten. Mit beständigem Erfolg.

Worin aber liegt das „Erfolgsgeheimnis“ des „Traumstern“? Außergewöhnlich, ja geradezu anachronistisch im Vergleich zu den Gepflogenheiten der kommerziellen Kinos, mutet zunächst der Verzicht auf die Prolongation erfolgreicher Filmtitel an, und das, obwohl das Licher Kino als Provinz-Nachaufführer Kopien von erfolgreichen Titeln ohnehin oft erst Wochen nach Bundesstart erhält. Stattdessen legen die Kino-Macher schon für einen Monat im vorhinein fest, an welchen Tagen und wie lange ein Film gezeigt wird. Neben festen Schienen, wie dem täglichen Jugendprogramm um 17. 15 Uhr und dem Kinderprogramm an den Wochenenden, können so thematische Schwerpunkte und kleine Retrospektiven gebildet werden. Das sorgfältig komponierte Programm, das zwar konstenintensiv, aber abwechslungsreich ist, wird dann im hauseigenen Programmheft angekündigt, das in einer Auflage von rund 18. 000 Exemplaren verbreitet wird.

Außergewöhnlich ist auch, daß nicht nur gute Filme, sondern auch Konzerte, Kabarett, Kleinkunst, usw. präsentiert werden. Oft ergänzen derartige Live-Veranstaltungen thematische Filmreihen, etwa zu Afrika oder Männerbildern. Darüber hinaus laden Langer und Gsänger gerne Filmemacher ein, die ihre jüngsten Werke selbst präsentieren und sich anschließend dem Publikum stellen. So waren im Oktober Regisseur und Hauptdarsteller des Krimis „Bunte Hunde“, Lars Becker und Til Schweiger, zu Gast im „Traumstern“, dessen Name übrigens auf ein Projekt Fritz Langs zurückgeht. Und im November kam Desirée Nick, die Hauptdarstellerin in Rosa von Praunheims „Neurosia“, nach Lich und sang zudem einige Chansons.

Bei der Entwicklung von Themenschwerpunkten greifen die Kinomacher gerne Vorschläge der Zuschauer und von Gruppen und Institutionen in der Region auf. Oft arbeiten sie dabei mit örtlichen Initiativen oder Einrichtungen zusammen und locken so Menschen ins Kino, die sich sonst dort nur selten blicken lassen. Wichtig ist für Gsänger allerdings, „sich die Themen nicht vorgeben zu lassen, sondern selber Akzente zu setzen“.

Selbst bei ausverkauftem Haus bringen Konzerte und andere künstlerische Darbietungen übrigens keinen Gewinn: „Bei 200 Plätzen kann sich das nie rechnen“, erklärt Langer. Solche Veranstaltungen stellen für die Betreiber eher Mittel zur eigenen Motivation dar und helfen bei der Weiterentwicklung des Gesamtprogramms. Außerdem „gelingt es damit immer wieder, Leute erstmals ins Kino zu bringen, egal ob jüngere oder ältere“, so Langer weiter, „und wenn die hier einmal ein tolles Erlebnis hatten, dann haben wir sie als Kunden. “

Mittlerweile ist der „Traumstern“ sogar schon selbst zum Sprungbrett für Karrieren geworden. So fand die Uraufführung des „Metropolis“- Projekts, einer halb improvisierten Jazzmusik-Vorführung einer hessischen Band zu Fritz Langs gleichnamigem Stummfilm-Klassiker, vor gut einem Jahr in Lich statt. Wenn die Musiker demnächst von Vorstellungen in London, Rom, New York und Manila heimkehren, dann spielen sie zum Abschluß der Welttournee wieder in Lich.

Von großer Bedeutung für den stabilen Publikumszuspruch ist neben der räumlichen Nähe zur Universitätsstadt Gießen mit zahlreichen kinofreudigen Studenten sicher die ausgeprägte Zuschauerbindung. Denn obwohl das Kino mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schwer zu erreichen ist, kommen seit seit drei Jahren durchschnittlich 50.000 Zuschauer pro Jahr, und zwar weitgehend unabhängig von den Hochs und Tiefs in anderen Kinos. „Die Schwankungen nach oben oder unten haben wir nur in gedämpfter Form mitgekriegt“, sagt dazu Hans Gsänger. Diese Stabilität dürfte auch damit zusammenhängen, daß das breitgefächerte Angebot auch noch 40-jährige Kinogänger anspricht: „Was wir vor zehn Jahren schon gesagt haben“, so Langer, „daß Kino nicht nur etwas für Jüngere ist, das hat sich mittlerweile herumgesprochen. “

Trotz des vielfältigen Veranstaltungsangebots kann man im „Traumstern“ auch noch den guten alten „Repertoirefilm“ sehen, wenn auch nicht mehr so oft wie früher. „Wir versuchen, ein eigenes Repertoire aufzubauen“, meint dazu Gsänger. Wenn zum Beispiel „Underground“ von Emir Kusturica ansteht, dann versucht man, auch den einen oder anderen älteren Film ins Programm zu nehmen. „Wir stellen uns nicht auf den Standpunkt, wie das von Filmkunsttheatern seit Jahren massiv vertreten wird, daß man Repertoire nicht mehr spielen kann. Daß es durch die vielen Fernsehausstrahlungen schwieriger geworden ist, ist klar, aber es gibt Wege, Repertoire relativ erfolgreich zu spielen.“ Gsänger verweist auf das „tolle Beispiel“ des elf Jahre alten „Frida Kahlo“-Films von Paul Leduc: „Der ist hier vor kurzem besser gelaufen als sämtliche Erstaufführungen. “

Gleich in mehrfacher Hinsicht widmet sich der „Traumstern“ den „schwierigen“ Filmgenres. Die hauseigene Statistik belegt es: So wurden 1994 mehr als 100 Kurzfilme in rund 400 Vorstellungen, mehr als 100 Kinder- und Jugendfilme sowie über 20 Dokumentarfilme gezeigt. Besonderen Wert legt man in Lich auch auf Originalfassungen: Mehr als 90 Filme liefen im Vorjahr in der Originalsprache oder mit deutschen Untertiteln. Auch wenn die Herkunft eines Filmes für Langer und Gsänger weniger wichtig ist als Qualität oder Inhalt, so haben Filme aus der sogenannten Dritten Welt hier doch ganz gute Chancen: Aus 40 Ländern kamen die 320 Filme, die 1994 in Lich zu sehen waren. Immerhin 55 Prozent stammten aus Europa, nur 25 Prozent aus den USA, aber sechs Prozent aus Asien und beachtliche 14 Prozent aus aller Welt.

Doch wie sicht es in den nächsten Jahren aus? Haben Programmkinos überhaupt noch eine Zukunft? Im großen Kino-Jubiläumsjahr meint Hans Gsänger: „Wir gehen natürlich davon aus, daß wir mittelfristig eine Zukunftsperspektive haben. “ Mit ihrem schon jetzt quasi „multimedialen“ Konzept scheinen die Licher Kinomacher durchaus gerüstet, etwa für die bevorstehende „digitale Revolution“. Berührungsängste gibt es in Lich jedenfalls nicht - so stellte dort schon vor einiger Zeit Peter Krieg sein „interaktives Filmprojekt“ vor, bei dem die Zuschauer den Fortgang der Handlung bestimmen können.

Auch angesichts zahlreicher neue Medienangebote sind die „Traumsterner“ zuversichtlich, daß das „Kino als Erlebnisort“ überleben wird. Dabei berufen sie sich gerne auf Edgar Reitz, der ihnen in dem Aufsatz „Ein Kino für's nächste Jahrhundert“ in der „Süddeutschen Zeitung“ (31.10. / 1.11.1995) geradezu aus dem Herzen gesprochen hat, indem er dort dem kulturpessimistischen Gerede vom „Ende des Kinos“ entgegentritt und stattdessen eine optimistische Skizze des künftigen Kinos mit einem „bacchanthischen Element“ entwirft. „Erst das neukonzipierte Premierenhaus, das alle spektakulären Möglichkeiten der Architektur, der Technik und der gesellschaftlichen Begegnung zum prägenden Ereignis der Städte macht, ist das Kino der Zukunft, das Bestand hat“, so Reitz.

Auch was die Bewertung von Multiplexen als Film-Warenhäuser für das Massenpublikum angeht, sind sich Reitz und das „Traumstern“-Duo einig. Langer erzählt in diesem Zusammenhang von einem Besuch im „Cinecittà“ in Nürnberg. Bei aller Bewunderung für die gelungene Architektur und die Lage „mitten in der Stadt“ war er allerdings sehr enttäuscht über die durchgängige Programmierung von Hollywood-Filmen gerade in diesem Multiplex: „Wenn ehemalige Programmkino-Macher fast nur ‘Mist’ spielen, dann kann’s das irgendwie nicht sein.“

Kategorie: Firmenportrait (GRIP FACE)

Schlagworte: Auszeichnung, Kino

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