GRIP 11

01.07.1995

Was haben „Arithmetiker und Mythologen" mit dem Drehbuchschreiben zu tun?

Von Bettina Nebel

Der vielsagende, gleichnamige Titel eines Drehbuch-Workshops mit Thomas Carle, dessen erster Teil an dem Wochenende vom 12. bis 14. Mai stattfand, machte vor allen Dingen neugierig und führte zu allerlei Rätselraten unter den interessierten Anrufern.

Kaum hatten sich alle Teilnehmer zu Beginn des Seminars eingefunden, da waren wir auch schon mittendrin in der Thematik und erfuhren, daß sich die Arithmie beim dramaturgischen Filmaufbau durch die Gliederung des Drehbuchs in mehrere Abschnitte ergibt. Dies geht grundsätzlich bis auf die klassische aristotelische Einteilung der Tragödie in fünf Akte zurück, die jeweils durch einen Handlungsumschwung (Peripetie) beendet bzw. übergeleitet werden. Die im amerikanischen Kino gängige Unterteilung in ein Dreiaktschema, wird von sogenannten „Plotpoints“ markiert, die entsprechend beschaffen und vorbereitet sein müssen, um die an diesen Stellen zum Erliegen drohende Handlung erneut voranzutreiben, indem eine unerwartete Wendung eintritt.

Die Frage, wodurch Kino seine Faszination ausübt, ließ z. B. Autoren wie Joseph Cambell sich mit den großen alten Mythen, Sagen und religiösen Überlieferungen beschäftigen und deren Spezifika und Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Daraus ergibt sich ein Bild, das all diesen Erzählungen gemein ist und im wesentlichen mit dem Begriff des Übergangs, einschließlich der Loslösung und Trennung von Altem und der Wiedereingliederung umschrieben werden kann.

Die mythologische Kraft erhält demnach ein Film, indem er Prozesse, die im Menschen stattfinden - die folglich eine fundamentale menschliche Erfahrung darstellen - nach außen verlagert. Der Protagonist des Films begibt sich auf eine Reise, auf die er den Zuschauer mitnimmt, und in deren Verlauf er eine allmähliche Wandlung durchmacht. Diese Metamorphose beschreibt Campbell in einer Kreisform, unterteilt in Tag- und Nachtwelt, die verschiedene aufeinanderfolgende Stationen von Schwellenzuständen, von Grenzüberschreitungen und des Werdens enthält, und die außerdem von inneren und äußeren Hindernissen, Prüfungen, aber auch Hilfestellungen von Seiten anderer begleitet werden. Am End- bzw. Ausgangspunkt angekommen, hat der Held (die Heldin) seine (ihre) angestrebte Ganzheit (Holeness), die geschlechtliche Spaltung überwindend und sein Gegenüber oder anderes Ich erkennend, also seine persönliche Integrität zurückgewonnen, die ihn auch zu einem anerkannten Gesellschaftsmitglied macht. C. G. Jung hat für das Spannungsverhältnis der Zweiheit innerhalb einer Einheit, genauer gesagt für das unbewußte Seelenbild, das der Mensch von dem jeweils anderen Geschlecht in sich trägt, die Begriffe von „Anima“ und „Animus“ geprägt, die während der Reise aufeinandertreffen und sich begegnen. Am Filmbeispiel „Der einzige Zeuge“ von Peter Weir (1985) ließen sich die einzelnen Ingredienzien und Rituale der unterschiedlichen Phasen der Umwandlung exemplarisch und bis ins Detail nachvollziehen.

In der weiteren Diskussion kamen wir darauf, daß das Drehbuchschreiben ein Stück weit eine ebensolche Reise ins Ungewisse darstellt, bei der sich der Schreibende auf kreatives Neuland begibt, Krisensituationen durchlebt und auf Schreibblockaden stößt, die er (sie), indem er (sie) sich darauf einläßt und Raum schafft, überwinden kann, um anzukommen. Vielleicht erhält eine Geschichte durch das mühsame, mehrfache und schrittweise „Durchleben“ einen Großteil ihrer Authentizität, die dann auch der Zuschauer spüren kann und laut Thomas Carle trägt jeder mindestens eine Geschichte in sich, die erzählt sein will.

Doch wie kann sie filmisch erzählt werden, wie ist eine Geschichte gebaut, wie erhält sie, die ihr angemessene Struktur und Form? Anhand vieler verschiedener Beispiele aus der Filmgeschichte und von aktuelleren Kinofilmen bekamen wir vorgeführt, welche filmsprachlichen Mittel zur Verfügung stehen und wie sie eingesetzt werden können, um einerseits bereits beim Drehbuchschreiben in Bilder denken zu lernen, und um andererseits die „physische“ Dimension der Filmerzählung nie aus dem Blick zu verlieren. Außerdem erfuhren wir von der Kunst des elliptischen Erzählens, d. h. wie Auslassungen gestaltet werden können, um eine Verdichtung des Materials ohne wesentlichen Informationsverlust oder mehr Konzentration zu bewirken. Der eigentliche Plot des Films wird von dem Subplot untermauert - durch die Handlungs-bzw. Aktionsebene taucht das der Filmvorlage zugrundeliegende Thema immer wieder auf, durchzieht sie, wird sichtbar gemacht bzw. verstärkt durch wiederkehrende Bildmotive. Wichtig ist, daß sich bereits mit Beginn die zentrale Fragestellung des Films, sowie Konfliktpotentiale und -Konstellationen abzeichnen, beispielsweise in Form eines metaphorischen Anfangsbilds, und es muß ein Katalysator gefunden werden, der den Helden (die Heldin) in Zugzwang bringt und dadurch die Story beschleunigt. Zudem sind die Figurenzeichnung und die Einführung der Charaktere von großer Wichtigkeit, so daß zum einen für die unterschiedlichen Personen gesonderte Transformationsbögen entwickelt werden können und sich zum anderen zwischen den Akteuren ein subtiles Beziehungsgeflecht entfalten kann, von dem jeder einzelne Faden seinen eigenen Spannungsbogen erhält, und, und, und.

Thomas Carlé vermittelte die praktische Umsetzung des Drehbuchschreibens „à la Hollywood“ anhand einer umfangreichen Checkliste.

Die vielen Eindrücke und Anregungen sollen bis zum zweiten Teil des Workshops in ein jeweils eigenes Exposé der Teilnehmer/innen einfließen. Natürlich waren diese sehr an die von den „script-doctores“ angewandte Monomythos - Theorie des amerikanischen Mainstream - Kinos, das auf Kassenschlager abzielt, angelehnt, und die Vorstellung von serienmäßiger Drehbuchproduktion nach diesen Schemata lassen doch ein Gefühl von Eintönigkeit aufkommen; außerdem stellt sich die Frage, ob mit dieser Theorie nicht wieder nur die alten, überkommenen, wenn auch zweifelsohne immer noch zugkräftigen Heldenmuster festgeklopft werden.

Die Kürze der Zeit ließ es leider nicht zu, diese Drehbuchtheorie anderen Drehbuchschulen oder andersgearteten Filmprojekten gegenüberzustellen. Zum Ende gab uns Thomas Carlé jedoch noch eine lange Literaturliste zu dem Themenkomplex „Drehbuch“ in die Hand, die es vielleicht ermöglicht, an diesem Punkt weiterzudenken und weiterzugehen oder auch andere Ausgangspunkte zu finden.

Kategorie: Bericht/Meldung (GRIP INFO + Filmland Hessen-Beiträge)

Schlagworte: Filmhaus Frankfurt, Drehbuch, Ausbildung/Weiterbildung/Studium

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