GRIP 11
01.07.1995
Von Filmen und TV-Nomaden
Eindrücke vom Prix Futura 1995
Von Eduard Erne
Es gab zwei wunderbar irritierende Momente beim diesjährigen Prix Futura in Berlin. Bei der Preisverleihung bedankte sich der Vertreter des Shanghai Television aus China, der für das Fernsehspiel „Flamme des Aufruhrs“ mit dem Spezialpreis Prix Futura Asia ausgezeichnet worden war, indem er zu singen anfing. Kein „Ich danke meiner Mutter und dem zuständigen Fernsehredakteur“, nein, er sang ein Stück aus einer Pekingoper.
Die zweite Irritation, symptomatisch für Sehgewohnheit und Programmerwartungen der Jurymitglieder, fand in der Kategorie TV-Documentary statt, als der mongolische Film „Nuudel“ (Nomaden) von Baldir Byambadorj gezeigt wurde: ein Tag im Leben von Nomaden in der unendlichen mongolischen Landschaft. Sie bauen ihr Zelt ab, ziehen weiter, bis sie am Abend wieder ihr Dach aufbauen. Kein Kommentar, eine Beobachtung, nicht mehr. Lange Einstellungen, der Ton verschwindet fast, Gesichter, Schritte. Manche der verstörten Zuseher verließen den Vorführraum, um feststellen zu lassen, ob wirklich alle Tonspuren aufgedreht waren. Diese Einfachheit, und das Fremde paßt in kein TV-Schema.
Der Prix Futura ist ein außergewöhnlicher Wettbewerb, er ist ein Crash-Kurs in TV-Sprachen, in multikultureller Kommunikation. Es gibt keine Jury, die mehr oder minder prominent besetzt ist. Jede Produktion, die für den Wettbewerb in einer der Kategorien TV-Fiktion, TV-Documentary, Radio Drama und Radio Documentary eingeladen wurde, kann einen Delegierten in die Jury entsenden. In der Kategorie TV-Documentary waren es 30 Jurymitglieder, die 58 Produktionen aus 34 Ländern von Austria bis Zimbabwe zu beurteilen hatten. Jeden Abend werden die Filme diskutiert, dann werden sie von den Jurymitgliedern in einem Punktesystem bewertet. Am Schluß, nach Sichtung aller Filme, wird erneut diskutiert und nochmals bewertet. Demokratischer kann kein Preis vergeben werden.
Die Begegnungen in dieser Jury, die Diskussionen, sind es auch, was den Prix Futura eigentlich ausmachen. Selten ergibt sich die Möglichkeit, in einer so unterschiedlich zusammengesetzten Gruppe aus Fernsehredakteuren, Fernsehjournalisten, unabhängigen Produzenten und unabhängigen Filmemachern über Programme zu diskutieren. Die Unterschiede und Mißverständnisse waren das Aufregende.
Das Fernsehen ist wie ein Staubsauger. Es bedient sich überall, saugt ein und verwurschtet in einem langen Schlauch alle Partikel, bis nur noch eine weiche, graue, filzartige Masse übrigbleibt im vollgestopften Bauch. Bilder, Texte, Musik, dazwischen eine Haarnadel oder eine Pfennigmünze, versehentlich mitvereinnahmt. Gerade bei den TV-Documentaries wurde das sichtbar, trotz vieler interessanter Filme: Ein Genre, das es eigentlich nicht gibt. Programme, in denen filmische Momente vorkommen, die ansonsten aber undefinierbare Wort- und Bildvermischungen produzieren, dazwischen Filme, die (wenn sie überhaupt noch produziert werden), sich diesen Genregrenzen versperren. Programmacher/redakteure, die das Medium zum Staubsauger umfunktioniert haben und die Saugkraft ständig erhöhen.
Wie einzelne Haarnadeln wirkten die Filme beim Prix Futura, mehr oder minder befreit vom sie umgebenden und verstaubenden TV-Gemisch.
Aber auch das eine Qualität des Prix Futura: Die Diskussionen in der Jury machten es deutlich, die Ansprüche und Widersprüche von Filmemachern und Redakteuren, die Unterschiede von öffentlich-rechtlichen Produkten europäischer Machart, von Filmen des meist staatlichen Fernsehens in Dritt-Welt-Ländern und den unabhängigen Produktionen (TV-Documentaries, die von Privat- und Kommerzsendern produziert werden, waren nicht vertreten, wenn es sie überhaupt gibt). Inhaltliche Ausgeglichenheit und Objektivität, das Vernachlässigen von Bildsprache, von schrägen und spröden Anfängen zugunsten journalistischer Erzählweisen, die Videokrankheit, die sich angleichend über Bilder legt und die Slot-Manie, die Themen und Erzählweisen die ihnen immanente Zeit raubt. Bei den meisten der gezeigten Filme gab es interessante Ansätze, meist inhaltlich, und gleichzeitig die brutale Keule, die den Film ins TV preßt. Die BBC, Markt- und Trendführer im Genre, führte diese Tendenzen in der Produktion „STATE OF THE ARK: THE ZOOS THAT TIME FORGOT“ von Kate Broom geradezu vor: Ein Film über Zoos in Osteuropa, über wirtschaftliche Schwierigkeiten und unterschiedliche Auffassungen über Tierhaltung zwischen Ost- und Westzoologen. Im armenischen Yerevan erzählt der für die Reptilien zuständige Zoologe, wie er seine Schlangen über den Winter rettet, da kaum Geld für notwendiges Futter und vor allem Heizung vorhanden ist. Er nimmt sie alle mit nach Hause, schmuggelt sie in seine 2-Zimmer-Wohnung, in der er mit Frau, Kindern und Schwiegereltern lebt. Man sieht die Wohnung, vollgepfropft mit Kartons, in denen die Schlangen leben, zwischen spielenden Kindern und einer Ehefrau, die ihren Mann alarmiert, wenn die Reptilien ausbrechen. Aber anstatt in dieser Wohnung zu verweilen, sich dem Zoologen wirklich zu nähern, die Geschichte, die Not der Menschen/ Tiere zur Metapher zu vergrößern, kommt der nächste Zoo und der westliche Experte. Oder Heike Mundzecks ZDF Produktion „IM SCHATTEN DES HOLOCAUST“ über die zweite Generation, über die Kinder der Opfer und die Kinder der Täter. Beim Betrachten dieses Films fragt man sich eigentlich nur eines: Welcher Fernsehredakteur glaubt, daß dieses Thema in 53 Minuten und 30 Sekunden erzählbar ist und wie geht es einer Autorin, die das dann tut?
So waren die starken Filme die, die sich mit dokumentarischem Widerhaken dem Staubsauger verweigern: „ALLES IN ORDE“ (Alles ist in Ordnung) von Leo de Bock, (Belgisches Fernsehen BRTN), der daran erinnert, daß in der verstrahlten Umgebung von Tschernobyl noch Menschen leben. Ein Kind wird begraben, eine alte Frau kehrt in die evakuierte Todeszone zurück und spricht mit ihrem Haus, mit den Wänden, mit dem wenigen, was übrig blieb. In „RAZKAZI ZA UBIJSTVA“ (Mördergeschichten) von Meglena Kuneva und Iglika Trifonova aus Bulgarien erzählen Mörder die so normal scheinende Geschichte ihrer Tat. „6 OPEN, 21 CLOSED“ von Amit Goren führt in die Hölle des Beer Sheva Gefängnisses, Cinema direct mit einem ungewöhnlichen Gefängnisleiter im Mittelpunkt. Julie Shles und Amit Breuer führen nach „ST. JEAN“, einer Containersiedlung für Immigranten aus der ehemaligen UdSSR und Äthiopien, ein Film voller Humor und Traurigkeit zugleich. Zwei Filme aus Israel, die die Metaphern in ihren Geschichten entdecken.
Die meisten Filme aus Dritt-Welt-Ländern waren unabhängige Produktionen, die von Universitäten oder Institutionen im Rahmen von Bildungsprogrammen eingesetzt werden. In den von staatlichen Fernsehsendern produzierten TV-Documentaries dominiert die politische Direktive. Trotzdem thematisierten viele dieser Filme die Schnittstellen zwischen Identität, kultureller Tradition und westlichen Mustern, so auch der formal radikale Preisträger des Prix Futura Asia „IDENTITY - THE CONSTRUCTION OF SELF- HOOD“ von K. P. Yayasankar und Anjali Monteiro, eine Produktion des Tata Institutes of Social Sciences.
Der Prix Futura hat gezeigt, daß es das Genre TV-Documentary gar nicht gibt. Und wenn, dann nur in der Sprödheit, in der Verschiedenartigkeit einzelner Filme und in der Irritation, die Filme ausstrahlen können. Im Moment hat das aber mit Fernsehen nichts zu tun. ■
Anmerkung der Redaktion: Eduard Erne und Margareta Heinrich haben mit dem Dokumentarfilm „Totschweigen“ den Prix Futura 1995 im Genre TV-Documentary gewonnen. Wir gratulieren sehr herzlich!
Kategorie: Hintergrundbericht (GRIP FORUM)
Schlagworte: Festival, Auszeichnung