GRIP 11

01.07.1995

See me, feel me, touch me, heal me

The WHO'S TOMMY als Musical in Offenbach

Von David Ungureit

"Es gibt viele Argumente dafür, TOMMY aufzuführen und nicht nur musikalisch darzubieten. Einige dieser Beweggründe liegen klar auf der Hand, der wichtigste jedoch ist mein persönlicher, innerer Drang, mich dem Musiktheater widmen zu wollen. Ich habe lange gewartet und saß da und hockte wie eine Glucke auf diesen ganzen Aufführungsrechten, habe gebrütet und gebrütet und mir irgendein Signal erhofft, das mir sagt, daß das Publikum mittlerweile lieber in ein Theater geht, um eine Show von mir zu erleben, als ein Stadion zu stürmen, um THE WHO zu sehen. Kein Zweifel - Die Zeit ist gekommen. “

So läßt sich Pete Townshend, Mastermind der WHO und Schöpfer TOMMYS, im Programmheft des Offenbacher Musicals zitieren. Während die Rolling Stones noch immer ihre müden Knochen auf die Konzertbühnen dieser Welt hieven und dabei alles andere als alt aussehen, würden THE WHO wahrscheinlich wirklich keine Stadien mehr füllen.

Zum Glück hat sich der clevere Pete, der schon immer etwas smarter als der Rest der Rock ’n' Roll-Branche war, beizeiten ein weiteres Standbein geschaffen. Schon in den 60ern bewies er mit seinen intelligenten Songs und Texten, daß auch ein „angry young man“ durchaus ein Künstler sein kann.

Seit dieser Zeit streiten sich auch die Geschichtsschreiber, wer denn nun wirklich der Erste war, der auf der Bühne seiner Gitarre den Garaus machte indem er sie in ihre Bestandteile zerlegte. Während Hendrix auch hierin an Virtuosität kaum zu überbieten war - er bevorzugte den Feuertod seines Instruments - war Townshend mit Sicherheit der brutalste Schlächter der Sixstring. Er packte das Teil einfach am Hals und drosch damit solange auf den Bühnenboden (oder wahlweise in seine Hiwatt-Verstärkertürme), bis es unter Feedbackkreischen für alle Zeiten sein Leben aushauchte. Das nannte man Rock 'n' Roll. Schön war‘s. Und laut.

In Offenbach geht's ein wenig ruhiger zu. Seit dem 28. April läuft dort im neuen Musical-Theater an der Goethestraße, einer ehemaligen Synagoge, die Musical-Fassung der Rockoper TOMMY.

Seit 1969 geistert dieses monumentale Werk in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen durch die Medien. Zuerst als Schallplatte, dann live, von THE WHO gespielt, u. a. auch im Woodstock Film verewigt. 1975 verfilmte Ken Russe] die Story mit den damaligen Größen der Rock- und PopSzene und namhaften Schauspielern - Elton John als Pinball Wizard, Tina Turner als Acid Queen, mit Eric Clapton, Ann Margret, Oliver Reed und Jack Nicholson. Dazu gab es eine Soundtrack LP. Doch Pete ließ nicht locker und schuf, gemeinsam mit dem Regisseur Des Mc Anuff, 1992 eine Musical-Version, die über San Diego den Weg zum Broadway fand, wo sie seitdem einen Preis nach dem anderen einheimst (fünf „Tony Awards“, sechs „Drama Desk Awards“, drei “Outer Critics Circle Awards”, etc. ).

Und nun also Offenbach. Für mindestens fünf Jahre läuft TOMMY im neuen Theater, ein Vorhaben, das in Anbetracht des derzeitigen MusicalBooms durchaus realistisch erscheint.

Die Musik schrie eigentlich schon immer nach einer möglichst theatralischen Visualisierung - ein Verlangen, 27 das die Verfilmung nie so recht befriedigen konnte. Die neue Partitur versucht gar nicht erst, nach Rock ’n' Roll zu klingen, und das ist auch gut so.

Wer schon immer den Eindruck hatte, Pete Townshend hat eigentlich eine Oper geschrieben, die er aus Mangel an Möglichkeiten mit einer Rockband gespielt hat, der wird voll und ganz in seiner Meinung bestätigt.

So macht es überhaupt nichts, daß die Bügelfalten der Besucher schärfer sind als die Gitarrensounds und man die sonst obligatorischen Oropax getrost zu Hause lassen kann. Ein bißchen wirkt es so, als sei der gute Tommy, der stramm auf die Dreißig zugeht, allmählich erwachsen geworden.

Aktuell war die Story von dem blinden, tauben und stummen Flipperkönig ohnehin nie, auch wenn sie immer wieder als die Geschichte einer Generation bezeichnet wird. Diese Aufgabe hat Pete Towshend mit dem Song „My Generation“ viel besser erledigt.

Nein - TOMMY ist kein Zeitgeist Produkt, und auch Townshends halbherzigen Versuch, sein Werk als Ausdruck der heutigen Generation zu verkaufen, braucht das Musical gar nicht.

Wer den stolzen Preis für eine Karte berappt hat, der wird mit zwei Stunden Unterhaltung belohnt, die an Perfektion und Qualität kaum noch zu überbieten ist.

Mit einem unglaublichen Tempo wechseln die Kulissen, in denen das durchweg brillant besetzte Ensemble ein wahres Feuerwerk veranstaltet. Mancher Filmemacher könnte sich von der Art und Weise, wie auf der Bühne der komplizierte Plot in bewegte Bilder umgesetzt wird, getrost eine Scheibe abschneiden.

Geredet wird kaum, dafür umso mehr gesungen und getanzt, wobei die Choreographie angenehm natürlich wirkt und nie zum Selbstzweck wird. Die Figuren entwickeln sich im Laufe der Handlung zu echten Charakteren, was nicht zuletzt an den hervorragenden schauspielerischen Leistungen der Akteure liegt. Allein schon Roger Barts Auftritte als sadistischer Cousin Kevin sind das Geld für die Eintrittskarte wert.

Wer die Musik von Pete Towshend mag und auf zertrümmerte Gitarren notfalls verzichten kann, dem sei ein Besuch in Offenbach wärmstens empfohlen.

Kategorie: Rezensionen (Bücher und Film bzw. GRIP Kritik)

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