GRIP 11

01.07.1995

„Russische Symphony“

Von Heike Kühn

Konstantin Lopuschanskijs „Russische Symphony“ ist ein Film, dessen politische und ästhetische Komplexität Vergangenheit und Gegenwart des zerfallenen Sowjetreichs in allen nur denkbaren Facetten des Selbstbetrugs auffächert. Wie zuvor Lopuschanskijs Film „Briefe an einen Toten“ handelt er von einem Weltuntergang, der sich in Bußland mit dem Alltag verwechseln läßt. Doch während die atomare Katastrophe aus „Briefe an einen Toten“ zumindest unter den kindlichen Opfern Solidarität hervorbringt, entpuppt sich die Rettung der Kinder, zu der sich in „Russische Symphony“ der Intellektuelle Masarin verpflichtet, als selbstironischer Verweis auf eine Gefühlsduselei, die eine narzistische Gruppierung der russischen Intelligenzia pflegt wie das Schauspiel des passenden Dostojewski-Zitats.

Selbst das jüngste Gericht, das Masarin dazu bringt, sich in der Tradition des Schriftstellers, des schreibenden Propheten, in die Nähe der Politkader vorzuwagen, ist nur eine weitere Inszenierung von Schuld und Sühne. Während eine Chemiefabrik brennt, die zum größtmöglichen Unfall keinen Gott bräuchte, während das Meer ein Land einholt, dessen Dämme nicht unter der Last der Sünde, sondern unterm Pfusch zusammenbrechen, während Tote aus den Gräbern kriechen und vorwärtsrobben wie Soldaten im - Feld, lassen sich die unsterblichen KGB-Menschen vom aufgebrachten Volk sogar nackt über Scherben treiben: Nur um nach der Aufwallung des religiösen Fanatismus und der versoffenen Indifferenz gegenüber einer zur Gewohnheit gewordenen Apokalypse um so leichter in die Rollen der Katastrophenverwalter schlüpfen zu können.

Die Nationalisten, die nach einer Erneuerung des Gottesstaates schreien; der Schriftsteller, der im Untergang der Kinder ein Sujet für Bestseller vermutet; der Intellektuelle, der Zwiebeln essen muß, um vor Mitleid weinen zu können und sich von den Nutznießern des Chaos zu einem James Last der unterhaltsamen Buße umfunktionieren läßt: sie alle werden von einem Film zur Rechenschaft gezogen, der in der typisch russischen Pose fanatischer Gottesfurcht oder dogmatischer Gotteslästerei die schlimmste Geißel Rußlands sieht. Dennoch vermag auch Lopuschanskij sich der Tradition der Tragödie nicht zu entziehen. Am Ende wird die intellektuelle Marionette Masarin im Schnee vor Gott auf den Knien liegen, wird einer Reue frönen, die sich im Blick in die Kamera immer noch als gespielt zu erkennen gibt - und doch auch von der Anstrengung der menschlichen Entschuldung erzählt. Mit der Reue, die nicht nur den Gott der russischen Selbstverleugnung befriedigt, sondern der Ermordeten und Gedemütigten gedenkt, habe man, so Lopuschanskij, noch immer nicht begonnen.

 

Kategorie: Rezensionen (Bücher und Film bzw. GRIP Kritik)

Schlagworte: Spielfilm

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