GRIP 06

01.06.1993

Die Welt des Sports

Die Zweite Heimat

Von Reinhard Oswalt

Man hatte es ihm gesagt. Er war gewarnt worden. Auch Gisela mahnte bis zuletzt noch immer wieder: “Tu’s nicht Herbert, tu’s nicht! ” Und doch setzte er seinen Kopf durch. Unbeirrbar und entschlossen. Dreizehn Tage lang setzte sich Herbert aufs Dach. Er hatte seinen alten VW Käfer aus der Garage geholt. Längst war der abgemeldet worden, längst nicht mehr gewartet oder betankt. Er stand neben den Obstkisten und Heckenscheren, den Strohballen für die Pferde und dem Gartenschlauch. Herbert schob ihn aufs Feld. Und über das Feld hinaus auf die neue Umgehungsstraße. Auf der noch ein Stück bis an die Ortseinfahrt, wo er Stellung bezog. Dann setzte er sich aufs Dach. Stiller Protest, der Mann auf dem Käfer. Gisela kam dreimal täglich, um nach dem Rechten zu sehen. Immer brachte sie ihm belegte Brote, mal eine Suppe oder ein Bier. Herbert lächelte still, wiegte den Kopf, schüttelte ihn und erstarrte wieder. Der Zeitpunkt für die Aktion war gut gewählt, die Nächte lind, die Tage nicht zu heiß. Herbert saß die 13 Tage aus.
Die Leute im Dorf konnte Herbert nicht mehr verwundern. Seit 8 Jahren war er der Sonderling, der Dorfdepp, der Exot. Anfangs, ja, da hatten sie ihn ausgelacht, verprügelt, wollten ihn aus der trauten Mitte des Dorfes jagen. Zum Beispiel die Geschichte mit der Kuh. Herbert hatte seiner Kuh Gummistiefel angezogen, sich mit ihr vor den EDEKA - Laden gesetzt und allen Kunden euterfrische Milch versprochen. Oder die Sache mit dem Glockenseil. Der Küster hätte die Rasierklingen beinah übersehen, die Herbert säuberlich eingearbeitet hatte. Im Laufe der Jahre hatten sie sich aber an ihn gewöhnt. Es mag wohl die friedvolle Harmonie der Gegend ihren Anteil daran gehabt haben, daß die Toleranz am Ende siegte und auf Toleranz war man im Dorf besonders stolz. Auch gab es eine Phase, in der Herbert nicht besonders in Erscheinung trat. Er betreute den Kräutergarten hinter dem Haus, saß am Schreibtisch und schrieb viele Seiten voll, lächelte jedermann zufrieden an und ließ auch die Dorffremden in Ruhe. Eines Tages jedoch ging es wieder los. Und dann hatten sich die Aktionen gehäuft. Der zugeleimte Briefkasten des Postamts, der Polizeiwagen mit dem Schweinskopf auf dem Kühlergrill, dann schließlich das kleine ferngesteuerte Flugzeug, mit dem Herbert Schafe und Kühe auf den Feldern angriff und kirre machte. Eine Delegation des Gemeinderats mit dem Bürgermeister an der Spitze verbrachte einen Nachmittag bei Gisela auf der Terasse (Herbert war nicht zugegen) und sprachen bei selbstgebackenem Apfelkuchen und Kaffee über den abewesenden Ehehgatten. “Gisela”, hob der Bürgermeister an, “du weißt, wir mögen dich und auch Herbert gerne. Seit Generationen lebt deine Familie hier im Dorf, du bist hier geboren, deine Eltern waren anständige Leute. ” Die Erinnerung an das Elternhaus drei Feldwege weiter ließen Gisela einen Moment lang abschweifen, sie dachte an blühende Kirschbäume, den Geruch des verschwitzten Vaters am Abend und die blöde Traudel, unverheiratet, den Platz am Ofen, “... wir müssen mit Herbert einfach anders umgehen. Er muß wirklich mit seinem Unfug aufhören. Wir im Gemeinderat haben beschlossen, bei der nächsten Aktion... ”. Aber Gisela war noch einmal bei Traudel am Ofen und ihren blöden Gesängen. Sie verabschiedete die Delegation und wußte schon am Abend nicht mehr, womit denn der Bürgermeister nun gedroht hatte. Aber gedroht hatte er, sein Tonfall besaß doch eine gewisse Schärfe, die noch nachklang. Und so redete sie mit Herbert und bat ihn, nichts Auffälliges mehr zu unternehmen. Sie hätte ihn doch nicht hierher bringen sollen, in ihre alte Heimat, alles war nur ihr Fehler. Ein Mann mit Herberts Vergangenheit mußte einfach unter der provinziellen Enge leiden, ein Mann wie Herbert, der sich hierher zurückziehen und Drehbücher schreiben wollte. Sie hatten sich in Schwabing kennengelernt, er schien so anders, so getrieben. Heute wußte sie, daß er anders war, aber dieses Anderssein hatte seine Attraktivität verloren. Dennoch stand sie zu ihrem Mann, eine Trennung hielt sie gerade in dem Dorf ihrer Eltern für undenkbar.
Herbert saß weiterhin auf dem Autodach, als Gisela einen Entschluß fasste. Sie mußten fort von hier, wieder in die Stadt. Sie ging in sein Arbeitszimmer mit dem schönen Blick in den Garten, um nachzudenken. Der Schreibtisch war wie immer aufgeräumt, der Rauch der Pfeife hing als Ahnung noch im Raum. Gisela blätterte in den Notizen ihres Mannes, zum ersten Mal, sonst ließ er es nicht zu, daß sie das Vorläufige, das Unvollendete beurteilte. “Exposees und Ideen” stand als Überschrift auf dem, in Leinen gebunden Buch direkt vor ihr. Der letzte Eintrag war acht Jahre alt, wie sie am Datum erkennen konnte. “Geschichte eines Mannes, der als Fremder in ein verschlafenes deutsches Dorf kommt, durch sein merkwürdiges Verhalten die Einwohner provoziert und schließlich auf ungeklärte Weise ums Leben kommt.” Gisela sah den blühenden Flieder im Garten, dessen Duft sich mit dem der Pfeife zu einem behaglichen Geruch vermengte und ahnte, daß ihr Entschluß nun schnell in die Tat umgesetzt werden mußte.

Kategorie: Bericht/Meldung (GRIP INFO + Filmland Hessen-Beiträge)

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