GRIP 04

01.12.1992

Portrait 2 - Unser Mann in Armenien

Es ist der 7. Dezember 1988, kurz vor Mittag. In einem kleinen armenischen Bergdorf arbeitet eine Filmcrew an einer weiteren Einstellung von DAS VERLORENE PARA¬ DIES. Ein alter Mann (Gevork Dovosian) macht sich für seinen Take bereit.

Von Manfred Seiler

Der Regisseur David Safarian gibt das Kommando und die Kamera rollt. Der alte Mann steigt langsam einen steilen, steini­gen Bergpfad hinauf, als sich plötzlich die Erde bewegt. Das massive Kamerastativ schwankt wie von Geisterhand berührt hin und her. Nach einigen Sekunden ist der Spuk vorbei. David blickt in die Ferne und sein Ausdruck entspannt sich zunächst.
Seine Aufmerksamkeit gilt dem Atom­kraftwerk, das in das Kaukasustal ein­ gebettet daliegt und es steht noch. Doch die Gesichtszüge des alte Gevork haben sich verdüstert. Er sitzt zusammen­ gesunken auf einer Steinplatte und ist allen entrückt.
Regisseur David versucht, die Konzentra­tion seiner Mitarbeiter erneut zu sammeln, als ein Auto hupend und in schneller Fahrt die Dorfstraße hinauffährt und unmittel­bar vor dem Filmset anhält. Der Fahrer des Wagens ist außer sich vor Wut und Verzweiflung: “Was für eine irre Sache haltet ihr hier ab?... Ihr macht Filme? Hört ihr, es gab ein Erdbeben. ” Die Filmemacher machen sich sofort auf den Weg ins Krisengebiet und schon eine halbe Autostunde vom Bergdorf entfernt, sind die ersten Einschnitte und Einbrüche, die das Beben in den Boden gerissen hat, zu erkennen. Es wird immer schwieriger mit den Fahrzeugen vorwärts zu kommen.
Als Davids Gruppe endlich die Stadt­grenze von SPITAK erreicht, wird ihnen die unbeschreibliche Wucht des Erdbe­bens offenbar: die Stadt existiert nicht mehr.
Feuerschein und Rauch ziehen über die Trümmerlandschaft. David bittet seinen Kameramann Aufnahmen zu machen. In dem unbeschreiblichen Chaos bahnen sich die beiden ihren Weg durch die Stadt. Sie graben mit bloßen Händen nach Verschütteten, folgen hier dem Schrei eines Verletzten. Alles ist irreal. Der Kamera­mann weint. Er erträgt den Blick durch den Sucher seiner Filmkamera nicht mehr.
Die Bilder verschwimmen immer mehr.
Noch weiß niemand, wieviel Menschen innerhalb weniger Sekunden ihr Leben verloren haben. Eine Woche bleibt David im Erdbeben­gebiet, um an den Rettungsmaßnahmen teilzunehmen, bis ihn seine Kräfte verlas­sen und er in die Hauptstadt Eriwan zurückkehrt. Es müssen viele zehntausende Menschen gewesen sein, die der Naturka­tastrophe zum Opfer fielen.

Ein Jahr später.
Der Sucher einer Videokamera ist auf eine Landkarte gerichtet. Ein Finger kommt ins Bild und fährt suchend auf der Karte umher. Die Kamera zieht in eine Totale auf und ich komme ins Bild. Ich deute auf kyrillische Buchstaben und buchstabiere sie mit zitternder Stimme: “SPITAK, da waren wir gestern, bei dreißig Grad unter null! ” Obwohl wir uns im Inneren eines Raumes befinden, beschlägt mein Atem beim Sprechen. Ich ziehe meine russische Schirmmütze tiefer in die Stirn. Ein Kameraschwenk zeigt mehr von dem Raum: bis auf einen Tisch, einen Stuhl und einen Spiegel ist er leer. Ein Mann in dicker Daunenjacke und Pudelmütze sitzt an dem Tisch und brüht mit einem Reisetauch­sieder Teewasser auf. Eine Schärfenverlagerung läßt uns die Spiegelschrift auf der Glastüre entziffern: R-E-D-A-K- T-E-U-R, das ist offensichtlich die Tätig­keit, die der Mann normalerweise ausübt.
Der Kameraschwenk endet auf dem Spiegel und wir erkennen den Kameramann, dessen gefrorene Finger das Videogerät so ruhig wie möglich halten: es ist Peter Petersen.
Wir haben gerade einen Rundgang durch das armenische Filmstudio ARMENFILM gemacht und nehmen die Einladung des Redakteurs auf eine Tasse Tee gerne an, denn im gesamten Filmstudio ist die Hei­zung ausgefallen und die Raumtemperatur liegt um den Gefrierpunkt. Im gesamten Filmstudio?! Nein, nicht überall - in der Chefetage sind behelfsmäßig Gasbrenner aufgestellt - ein (letztes) Privileg der Chefetage. Es ist der zweite Tag unserer Armenienreise und die Eindrücke sind mächtiger als die Phantasie. Im fernen Deutschland haben wir in den zurück­ liegenden heißen Sommermonaten sozu­sagen im “Trockendock” ein Drehbuch zu einem Spielfilm über das Erdbeben ge­schrieben und suchen nun vor Ort einen armenischen Regisseur für die Realisation.
Der Redakteur reicht uns den Tee.
So haben wir uns Armenien nicht vorge­stellt: das Studio macht auf uns den Ein­druck, als habe das Erdbeben hier stattgefunden. Die Stadt Eriwan ist noch in der Nacht unserer Anreise von der Roten Ar­mee eingekreist worden. Das Land steht am Rande eines offenen Kriegskonfliktes mit Aserbaidschan um die Enklave Berg­ Karabach. Filmarbeiter haben die Kamera mit dem Gewehr getauscht und sind in die Kaukasusberge aufgebrochen. Wir wollen nach Hause wie E. T. “Nach Hause telephonieren ist jetzt auch unmöglich”, sagt der Redakteur, aber kämpft doch mit uns! Film ist Abenteuer! ” Plötzlich öffnet sich die Tür und ein großer Mann, mit buschigem Oberlippenbart und großen, neugierigen Augen betritt das Zimmer. Er lächelt zufrieden, als er uns erblickt. Peter schaltet die Kamera wieder ein und “verbürgt” die Szene auf unserem Videotagebuch. Der Mann stellt sich uns folgendermaßen vor: “Hallo, my name is David Safarian and I won the Großer Preis in Oberhausen Film Festival, you feel comfortable? ”. Wir schütteln den Kopf.
Abgesehen von den beängstigenden Kriegsgerüchten, versuchen die Studio­bosse uns einen Regisseur ihrer Wahl vor die Nase zu setzen. Auch David ist diese Sache zu Ohren gekommen und erbe­ schließt, noch ehe die Apparatschiks mit der Wahl ihres Mannes durch sind, sich einfach selbst vorzustellen: “To make films in Armenia you must be crazy. ” Dann verstummt er und schiebt uns ins Studiokino, um uns seinen Film NEUES ÜBER KHAKHLOVA zu projizieren.
Der Film. Eine lustige Pianomusik hebt an und ein “nostalgischer” Filmausschnitt der großen alten Dame des sowjetischen Kinos jagt den nächsten. Die sowjetische DIETRICH lacht uns mit ihrem unglaub­lich großen Mund an und der Kintopp der zwanziger Jahre hat uns wieder. Dann ein Schnitt und der Film katapultiert uns ins Heute, nämlich in die Moskauer Woh­nung der Leinwanddiva. Sie, weit über siebzig, hat nicht ein Fünkchen ihrer Kinopräsenz verloren. Khakhlova redet über ihre Stummfilmära, ihre Ehe mit dem Regisseur Lev Kulechov und fordert vor laufender Kamera den jungen Regisseur David ständig auf, ihr schauspielerisches Talent zu benutzen: “... wenn ich tele­phoniere, dann sieht das bestimmt besser aus, als nur im Sessel zu sitzen,... ich kann auch auf den Tisch steigen, was meinst du, mein kleiner David?! ” Als Khakhlova er­ fährt, daß David in Schwarz/weiß dreht, besteht sie darauf, daß das Filmmaterial gewechselt wird: “ Sonst kann das Publi­kum niemals mein schönes rotes Haar be­wundern”. Deshalb ist der letzte Akt von NEUES ÜBER KHAKHLOVA in Farbe. Wir sind von Davids Dokumentation begeistert und wollen alles über ihn erfah­ren.
Wir ziehen in einen Schneideraum um und David gewährt uns Einblick in sein Allerheiligstes, seinen ersten Spielfilm DAS VERLORENE PARADIES. Wir sichten die Muster in der Reihenfolge, in die sie der Drehplan gebracht hat. Es ist wie das Aufdecken einzelner bunter Karten eines Memory-Spieles: wir sind hoch in den Bergen des Kaukasus / Auf dem freien Feld steht ein alter Bergbauer mit einem Jungen / Die beiden schauen einem ein­ schwebenden Helikopter entgegen / Dicke Männer steigen aus dem Flieger / Die Fremden grüßen und laden den Alten auf einen Schluck Wodka ein / Auf der blanken Erde wird eine Tischdecke ausgebreitet / Der naive Alte erwidert die Gast­freundschaft. David legt eine neue Rolle an. Die Fremden sind nun trunkener und redseliger. Sie treiben ihren Spaß mit dem Alten. David ergänzt im Off die fehlenden Dialoge: “... alles wird hier verschwinden, wenn der Staudamm kommt. ” / Da wird dem Alten klar, daß es die Landvermesser sind, mit denen er trinkt / Der Achtzig­jährige zieht beherzt sein geschultertes Gewehr ab und bringt es in Position / Erst erntet er Gelächter (das wir nicht hören) / Es kommt zum Kampf und der Alte stürzt / Schließlich ergreift der Knabe die Waffe. “Ein Schuß löst sich, und dann noch ein zweiter”, sagt David. Die Landvermesser fliehen zurück zum Helikopter / Die star­tende Maschine läßt den Jungen und den Alten im aufwirbelnden Luftstrom zurück.
Niemals werden die Bergbauern des klei­nen Dorfes PARTIZAK einer Umsiedlung in die Stadt im Tal zustimmen können.
Sagt doch ein armenisches Sprichwort, daß der Weg nicht ins Tal führt, sondern hoch zu den Berggipfeln weißt. Gemeint ist der Berg ARARAT, wo einst die biblische Arche strandete und der den in alle Welt vertriebenen Armeniern einen imaginären Fixpunkt gibt, an dem sie für sich “Heimat” und “Identität” festmachen können.
David ist klar, daß er seinen Film nicht fertigstellen kann, da die Organisation des täglichen Lebens schon so schwierig ist, daß für Film kaum Zeit und Kraft bleibt.
Dennoch stimmt er zu, mit uns zusammen das Drehbuch für unseren Film zu schrei­ben und die Regie zu übernehmen.
Jetzt beginnen wir fieberhaft aktiv zu wer­ den: von den Studiochefs erwirken wir die Herausgabe unseres Drehbuches und geben es an David weiter. Wir stellen uns auf eine vernichtende Kritik ein. “Sicher kann kein Armenier euer Buch in der jetzigen Form akzeptieren! ”... Das wissen wir schon selber. Die Eindrücke der ersten zwei Tage haben uns gezeigt, wie anders das Armenien unserer Phantasie gewesen ist.
David ist der einzige, der etwas in unserer Geschichte sieht und unsere Bemühungen um Wahrhaftigkeit anerkennt. Er zeigt uns das Dokumentarmaterial, das er nach dem Erdbeben gedreht hat. Danach entwickelt sich eine intensive Zusammenarbeit, an deren Ende ein neues Drehbuch steht, daß mit der ersten Fassung kaum mehr etwas zu tun hat.
Nach zwei Monaten Arbeit kehren wir nach Deutschland zurück. Unsere sowje­tischen Partner sind zufrieden und stehen “Gewehr bei Fuß”, um den Film zu pro­duzieren. David kommt nach Deutsch­land, um mit dem deutschen Produzenten die Finanzierung zu sichern. Aber trotz einer massiven Beteiligung der Sowjetunion kommt das Projekt nicht zustande, da es dem deutschen Produzenten nicht gelingt, seinen Anteil zusammenzube­kommen. David fliegt enttäuscht nach Armenien zurück.
Eines Tages klingelt das Telefon. David ist am Apparat und die Verbindung ist zu gut, als daß er aus dem “Osten” anrufen würde.
Tatsächlich stellt sich heraus, daß David in Berlin ist. Er hat seinen Film DAS VER­LORENE PARADIES fertiggestellt und versucht nun, ihn im Westen zu verkaufen.
Von Berlin aus reist er in die USA und nach Frankreich, wo sein Film mit großem Erfolg uraufgeführt wird.
David steckt voller neuer Ideen. Obwohl es fast unmöglich geworden ist, in Armenien Filme zu drehen, ist sein Tatendrang ungebrochen. David will das Original­ material des Erdbebens bearbeiten. Da er dazu noch Interviews in Deutschland drehen will, beschließen wir den Film gemeinsam zu produzieren. Doch ER­ SCHÜTTERUNG, so der Arbeitstitel, ist nicht Davids einziges Projekt. In Las Vegas hatte er eine wunderbare Idee für eine Filmkomödie. In diesem Jahr werden wir das Drehbuch für diesen Film entwickeln.

Kassel - Armenien, Armenien - Kassel:; ein filmisches Abenteuer geht weiter.

 

Kategorie: Personenportrait (GRIP FACE)

Schlagworte: Dreharbeiten, Filmemacher*in

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