GRIP 02

01.07.1992

A Cinema That Looks At Itself

Hervorgegangen aus Eckhard Schleifers Filmanalyse-Reihe zum italienischen Nachkriegskino stellt der folgende Beitrag eine Facette von Bernardo Bertoluccis zweitem Kinospielfilm PRIMA DELLA R1VOLUZIO NE (VOR DER REVOLU¬ TION, 1964) heraus. Die in diesem Jahr noch anstehenden Analysen werden am 14.08.1992 Rosselinis VIAGGIO IN ITALIA behandeln, am 16.10.1992 Fellinis ACHTEINHALB sowie am 13.11.1992 ALLONSANFAN von den Brüdern Taviani.

Von Eckhard Schleifer

Anmerkungen zu Bertoluccis PRIMA DELLA REVOLUZIONE

Das titelgebende Zitat Bertoluccis, einem Interview in Film-Quarterly 20 Nr. 1/1966 entnommen, nennt bereits den Aspekt seines Films, den die folgenden Zeilen beleuchten werden: Es geht um die Reflexion des Mediums, um Selbstreferenz, um "Film, der über Film spricht" (ebda). Uber die noch ziemlich abstrakten Hinweise des Regisseurs hinaus liefert uns der Cutter Roberto Perpignani, der sein Handwerk bei Orson Wel­les (DER PROZESS) gelernt und später unter anderem mit den Tavianis gearbeitet hat, viel konkretere Anhaltspunkte: "Bei PRIMA DELLA RIVOLUZIONE hatten Bertolucci und ich gerade die Erfahrungen der 'Nouvelle Vague' assimiliert. Wir waren beeindruckt von den Franzosen, die alle Konventionen über Bord warfen, die für die filmische Organi­sation von Raum und Zeit galten. So nahmen auch wir uns die Freiheit, mit Frakturen zu arbeiten" (Filmbulle­tin 3/1991).

Betrachten wir also daraufhin, die Stichworte "filmische Organisation von Raum und Zeit" sowie "Arbeiten mit Frakturen" noch im Ohr, den An­fang des Films, wo der Protagonist Fabrizio sich von der für ihn bestimmten Bürgerstochter Clelia los­sagt. Off-Stimme Fabrizio: "Clelia. Wir waren seit je verlobt, einer für den anderen vorbestimmt. Aber Cle­lia, das ist die Stadt. Clelia, das ist der Teil der Stadt, den ich abgelehnt habe. Clelia, das ist die Süße zu leben, die ich nicht für mich annehmen will. Deswegen, wegen eines ver­zweifelten und letzten Aufbäumens der Liebe, lief ich auf der Suche nach Clelia durch die Kirchen. Ich fand sie und wollte sie zum letzten Mal ansehen.”

In Einstellung (E) II befinden wir uns eindeutig noch in der Kirche und Fabrizio löst die im vorangegangenen Off-Kommentar gemachte Ankündigung ein. E III hingegen läßt schon keine klare Festlegung des Ortes mehr zu; zur Not ließe sich Fabrizio wie in E II im nämlichen Gotteshaus, gegen eine seiner Säulen gelehnt, si­tuieren. Vielleicht ist die 'Säule' aber schon der Baumstamm, der als solcher - durch die deutlich er­kennbare Rinde - erst in E IV zwei­felsfrei identifizierbar ist. Es bleibt somit ein hohes Maß an Ungewißheit (nicht umsonst hat Bertolucci sein Vorwort zur Veröffentlichung des Filmdrehbuchs in 'L’Avant-Scène du Cinéma' mit "Die Zweideutigkeit und die Ungewißheit im Spiegel" überschrieben). Erst in E IV haben wir also definitiv die Kirche verlassen; Fabrizio lehnt an einem Baum und das Ziel seines Blickes ist - wie schon in der Profilaufnahme davor nicht mehr Clelia. Fabrizio schaut vielmehr beidesmal melancholisch­ nachdenklich in die Ferne.

Als Zuschauer wissen wir demnach weder, wo sich Fabrizio in E IV befindet, noch können wir sagen, wie­ viel Zeit von E II bis E IV vergangen ist. Die drei Einstellungen (E II - IV), die allein durch die Ähnlichkeit des Bildinhalts (den schauenden Fabri­zio) zusammengehalten werden, or­ganisieren somit keine zeitlich­ räumliche Kontinuität; sie arbeiten vielmehr mit den von Perpignani be­reits angesprochenen Frakturen, mit Brüchen, Ellipsen und Sprüngen wie der fehlenden Motivierung des Ortswechsels. Betrachtet man den ganzen Film, so zerstört zwar Berto­lucci die konventionelle Kontinuität von Raum und Zeit nicht, (der zeitli­che, chronologisch erzählte Bogen spannt sich von April bis Dezem­ber 1962; den örtlichen Rahmen bilden Parma und Umgebung), aber sie ist doch durch die beschriebene, im­mer wiederkehrende Verfahrenswei­se (im Mikrobereich sozusagen) ein Stück weit aufgelöst.

Dazu nochmals Roberto Perpignani: "Man muß die Gesetze, nach denen normalerweise im Film mit Raum und Zeit umgegangen wird, zunächst au­ßer Kraft setzen, um dann eine neue Zeit und einen neuen Raum aus dieser besonderen Geschichte entste­hen zu lassen" (ebda). Ein weiteres Beispiel für diese Methode bieten die folgenden drei Sequenzen des Films, die Fabrizio im Gespräch mit seinem jugendlichen Freund und 'Schüler' Agostino zeigen. Auch hier wird dem linearen Fortschreiten der Handlung mit raum-zeitlicher Kontinuität eine klare Absage erteilt, so daß die drei Teile eher einen Block verschiedener Variationen bzw. Ver­sionen derselben Unterhaltung formen.

Der Kenntnis des Zuschauers entzieht sich in E IV auch das Objekt von Fabrizios Blick: Anstelle von Clelia, Fabrizios bisherigem 'Lebens­sinn' - sowohl in Hinsicht auf das Emotionale (Liebe), das Sozialpoliti­sche (Bürgertum) als auch das Reli­giöse (katholische Kirche) - ist nun ein 'unbestimmtes, leeres Feld' getreten, ein Freiraum, eine Offenheit, auch eine Unsicherheit, die Fabrizio im Fortgang des Films mit der Liebe zu seiner Tante Gina und dem politi­schen Engagement für die Kommunistische Partei zu füllen/zu gestalten/zu bewältigen versuchen wird.

Wo zeigt sich die Assimilierung der Nouvelle Vague-Erfahrungen noch? Ich will mich dabei beschränken auf die Aushängeschilder' Truffaut und Godard, für den Bertolucci, eigenen Worten zufolge, ja seinen Meister' Pier Paolo Pasolini "verraten" hat (Bertolucci hatte Pasolini bei ACCATTONE assistiert und von ihm den Entwurf für seinen ersten Kino­film LA COMMARE SECCA ge­schenkt bekommen).

Zu den seit AUSSER ATEM mittlerweile kanonisierten Regelverstößen Godards gehören u.a. die Jump Cuts, die wir auch in VOR DER REVOLU­TION wiederfinden (Agostino auf dem Fahrrad vor Cesares Haus etc.). Bildlich darstellen möchte ich die falschen Anschlüsse. Hier zu­ nächst (s:S.7) ein Beispiel aus A BOUT DE SOUFFLE: Michel Poiccard schießt nach rechts, der Polizist fällt aber getroffen nach links hinten.

Die obenstehenden drei Bilder aus PRIMA DELLA RIVOLUZIONE stam­men aus der berühmten Fahrradse­quenz, die übrigens im Drehbuch nicht vorgesehen war und erst während der Dreharbeiten entstanden ist. Agostino vollführt vor und für (den Zuschauer) Fabrizio mit seinem Rad eine Art Zirkusnummer (die be­gleitende Musik erinnert an Fellinis Hauskomponisten Nino Rota), wobei er aber ein ums andere mal stürzt. Die Stürze nehmen praktisch Agosti­nos Tod vorweg. Nach einem dieser Stürze liegt er rechts neben dem Fahrrad (I); daran montieren Bertolucci und Perpignani jedoch eine Nahaufnahme (II), in der Agostino in entgegengesetzter Richtung auf dem Boden liegt (Kopf unten anstatt oben), bevor sie wieder (mit III) an die Eingangsstellung anknüpfen und Fabrizio - sein rechtes Bein ist bereits im Bild - seinem Freund zu Hilfe kommen lassen.

Was Truffaut betrifft, möchte ich die Szene aus LES 400 COUPS anfüh­ren, in der Antoine Doinel von der Psychologin (im Off) befragt wird. Man findet hier (s.S.7) zwischen den einzelnen Antworten Antoines - auf Gegenschnitte mit der Psychologin im Bild hatte Truffaut bewußt verzichtet - kurze Überblendungen, ganz entgegen der Hollywood-Konven­tion, denn weder ist nennenswert Zeit verstrichen noch liegt ein Orts­wechsel vor. Daß bei diesem 'Verstoß' auch der Zufall im Spiel war, gibt Truffaut gerne zu: "Wir haben alles (gemeint sind alle Antworten Antoines E.S.) an einem Stück ge­dreht, und da wir am Schneidetisch die Reihenfolge der Fragen verän­dert haben, gibt es in dieser Szene an einigen Stellen diese raschen Überblendungen" (in: Robert Fischer (Hg.) Monsieur Truffaut, wie haben Sie das gemacht? Köln, 1991).

Eben diese 'Überblendungen in der Einstellung’ tauchen auch in Berto­luccis zweitem Kinospielfilm auf, als Fabrizio seiner Tante Gina von Agostino erzählt, er eine Art Leichenrede hält. Schon zuvor begeg­net dem Zuschauer dieses gegen den Strich gebürstete filmische Stil­mittel, wenn Fabrizio am Fluß Enza die badenden Subproletarier (Pasolini läßt grüßen) nach den Umständen von Agostinos Tod fragt.

Daß die Bezüge zur Nouvelle Vague (Wunschkameramann war, man ahnt es schon, Raoul Coutard) für Bertolucci über das bloße "Assimi­lieren von Erfahrungen” in Richtung auf Identitätsfindung hinausgehen, verschweigt der Regisseur nicht: "Ich hatte Lust zu schreien: Seht her, ich fühle mich mehr als französischer denn italienischer Filmema­cher" (in: Aldo Tassone, Le Cinéma italien parle, Paris 1982). Zu dieser brüskierenden Reaktion hat sicher der Flop von LA COMMARE SECCA seinen Teil beigetragen; war man doch in der Hoffnung auf den Preis als bestes Erstlingswerk nach Venedig gekommen und hatte stattdessen nur Pfiffe geerntet. VOR DER REVOLUTION sollte es übrigens in Italien, ganz im Gegensatz zu Frank­reich, nicht besser ergehen.

Kategorie: Rezensionen (Bücher und Film bzw. GRIP Kritik)

Schlagworte: Filmtheorie/Filmwissenschaft, Spielfilm

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